Glückssüchtig: “Ich werde kein Soldat!”Leo Tolstois Weg als Propagandist der Kriegsdienstverweigerung - die Anfänge während der eigenen Militärzeit des russischen DichtersVon Peter Bürger Die Unverfrorenheit, mit der Politiker*Innen die Kinder anderer Leute und Menschen anderer Länder auf Kriegsschauplätze schicken (oder schicken wollen), ist an Zynismus nicht mehr zu überbieten. Noch nie haben sich die Regierenden und Parlamentarier in der jüngeren Geschichte bei den Opfern ihrer Entscheidungen entschuldigt: zumal nicht bei den seelisch oder körperlich zerstörten Militärangehörigen sowie bei den Hinterbliebenen jener Soldaten, die in allen Schlachten der letzten Jahrzehnte - nicht nur in Afghanistan - einen völlig sinnlosen Tod gestorben sind … Mit Blick auf diesen Abgrund an Gewissenlosigkeit und Irrsinn, sowie angesichts der neuen bzw. alt-deutschen Planungen zu einer Kriegsdienstverpflichtung der jungen Generation, wäre schon viel gewonnen, wenn antimilitaristische Kampagnen heute hedonistische - lustvolle - Parolen überall im öffentlichen Raum platzieren:
Die Begründungen des russischen Friedensbotschafters Leo N. Tolstoi (1828-1910) waren freilich tiefgreifender und vor allem religiöser Natur: Wahres Glücklichsein bewegt sich immer in der Bahn eines schrankenlosen, universellen Wohl-Wollens. "Gott" steht für die fraglose Berechtigung und Verbundenheit allen Lebens. Wer sich selbst durch die Regierenden bzw. die Staatsapparatur dazu abrichten lässt, seine Mitmenschen totzumachen, stellt sich außerhalb dieses göttlichen Atemraumes. Wer den Kriegssold wählt, bezahlt es bitter mit einer Luftnot der allerschlimmsten Art. Solche notvolle Gottlosigkeit verweist auf einen Beruf von Laufburschen der Mächtigen, der mit ehrenwertem Heldentum nichts zu tun hat und das eigene Leben zwangsläufig in die Sinnlosigkeit hineinführt. Wer Leben retten möchte und über die Wirklichkeiten der real existierenden Kriegsapparatur informiert ist, der wird ganz sicher keine Soldatenuniform anziehen. (Solches aber gilt auf allen Seiten als staatszersetzend, weshalb jüngst die deutschen Behörden russische Kriegsverweigerer aus dem Kirchenasyl gezerrt und außer Landes gebracht haben.) Im letzten Jahr hat die Tolstoi-Friedensbibliothek - u.a. in Kooperation mit dem Lebenshaus Schwäbische Alb - zwei grundlegende Veröffentlichungen von Texten des russischen Dichters zu diesem Thema veröffentlicht: "Das Reich Gottes ist in Euch" und "Das Töten verweigern!" (siehe Literaturhinweise unten). Jetzt versammelt ein im Mai 2024 erschienener Tolstoi-Band die "Kriegsbilder und andere Dichtungen" aus den Jahren 1852-1863: Der Überfall (1852); Aufzeichnungen eines Marqueurs (1853/55); Waldgefecht (Der Holzschlag 1853/55); Sewastopol (drei Teile, 1855/56); Im Schneesturm (1856); Zwei Husaren (1856); Bekannte aus Moskau beim Detachement (Der Degradierte, 1853-1856); Die Kosaken (1863). Die ausgewählten Übersetzungen stammen von Hanny Brentano, L. Albert Hauff, Raphael Löwenfeld und August Scholz. Ein Begleittext von R. Löwenfeld erhellt die biographischen Kontexte der dargebotenen Werke. Mit Ausnahme der thematisch zurückweisenden "Kosaken" von 1863 sind sie alle während der Militärjahre des Dichters entstanden. In seiner "Beichte" (1879-1882) wird Tolstoi später schreiben: "Zu jener Zeit bin ich im Kriege gewesen und habe gemordet und zur selben Zeit begann ich zu schreiben, aus Hoffart und Hochmuth …" Die frühen Dichtungen aus der Militärzeit erhellen jedoch, dass bereits der vordergründig patriotische Soldat dem "Kriegsheldentum" nicht mehr trauen konnte:
Die drei genannten Bände der Tolstoi Friedensbibliothek:Leo N. Tolstoi: Kriegsbilder und andere Dichtungen aus der Zeit beim Militär. Mit einem einleitenden Text von Raphael Löwenfeld. (= Tolstoi-Friedensbibliothek - Reihe C, Band 2). Norderstedt: Bod 2024. (ISBN: 978-3-7597-3016-9; 572 Seiten; Paperback; 19,90 Euro). Leo N. Tolstoi: Das Töten verweigern. Texte über die Schönheit der Menschen des Friedens und den Ungehorsam. Neu ediert v. P. Bürger & Kathrin Warnatzsch. (= Tolstoi-Friedensbibliothek: Reihe B, Band 3). Norderstedt: BoD 2023. Leo N. Tolstoi: Das Reich Gottes ist in Euch, oder: Das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als mystische Lehre. (Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht). Übersetzung von Raphael Löwenfeld. Norderstedt: BoD 2023. Projektseite der Tolstoi-Friedensbibliothek mit Übersicht und Informationen über die gesamte Reihe (einschließlich der kostenfrei abrufbaren Digitalversionen): www.tolstoi-friedensbibliothek.de
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