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Vor Nato-Gipfel: “Bürgermeister für den Frieden” fordern atomare Abrüstung

Die atomare Abschreckung ist ein fragiles Konstrukt, der Atomkrieg ist eine reale Gefahr. Die Nato könnte zum 75-jährigen Jubiläum deeskalierende Angebote machen.

Von Rolf Bader

Vom 9. bis 11. Juli 2024 findet in Washington das Gipfeltreffen der Nato  statt, an dem alle 32 Nato-Staaten teilnehmen werden. Auf dem Gipfel sollen zum 75-jährigen Jubiläum die historischen Erfolge des Bündnisses gebührend gewürdigt werden.

Das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI veröffentlichte kürzlich seine neusten Zahlen über die weltweiten nuklearen Arsenale: Weltweit gibt es über 12.000 Atomwaffen – ein Großteil davon in den Arsenalen der USA und Russlands. Die Anzahl der einsatzbereiten Atomwaffen ist laut SIPRI im vergangenen Jahr sogar von ca. 2000 im Jahr 2023 auf aktuell 2.100 Stück gestiegen. Insgesamt gaben die neun Atomwaffenstaaten im letzten Jahr rund 91,4 Mrd. US-Dollar für Atomwaffen aus.

Weltweit werden die Atomarsenale aufgerüstet und Abkommen wurden aufgekündigt: Der INF-Vertrag zwischen den USA und Russland ist gekündigt, obwohl er auf unbeschränkte Dauer geschlossen wurde. Gekündigt sind auch die Verträge der beiden Staaten über die Begrenzung der Raketenabwehr (ABM) und über den "Offenen Himmel" (Open Skies). Der New-START-Vertrag über die strategischen Atom-Potentiale ist außer Kraft gesetzt, der umfassende Atomteststoppvertrag (CTBT) ist noch nicht in Kraft getreten. Rüstungskontrollverhandlungen sind ausgesetzt und finden zwischen den Atomwaffenstaaten aktuell nicht statt.

Am 8. Juli 2024 werden weltweit in über 8000 Städten die Friedensflagge der Mayors for Peace ("Bürgermeister für den Frieden") gehisst, um ein Zeichen gegen Atomwaffen zu setzen. Auch in Deutschland beteiligen sich ca. 770 Städte und Gemeinden an der Aktion.

Das weltweite Netzwerk wurde 1982 vom Bürgermeister der Stadt Hiroshima gegründet. In Gedenken an die Opfer der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki 1945 richten die Bürgermeister den eindringlichen Appell an die Atomwaffenstaaten, ihre Waffenarsenale abzurüsten.

Die beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki forderten unmittelbar über einhunderttausend Todesopfer. Die Bomben zerstörten beide Städte bis auf die Grundmauern.

Die nach 1945 durchgeführten über 2000 Atomwaffentests haben lebensbedrohliche und langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen und massive Umweltschäden zur Folge. Allein die von den USA auf dem Bikini Atoll gezündete Wasserstoffbombe hatte eine Sprengkraft von 15 Megatonnen: 1000-mal stärker als die Hiroshimabombe!

Strahlenbedingte Erkrankungen, Fehlbildungen und radioaktive Verseuchung zählen zu den gravierendsten Folgen. Die von 1945 bis 1980 durchgeführten oberirdischen Atomtests sind nach Hochrechnungen von Ärzten für etwa 2,4 Millionen Krebstote weltweit verantwortlich . Viele der Überlebenden der Atomwaffentests trugen und tragen die körperlichen Behinderungen und psychischen Folgen ihr ganzes Leben mit sich.

Am 8. Juli 1996 erklärte der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten, dass der Einsatz von Atomwaffen völkerrechtswidrig sei. Atomwaffen seien Massenvernichtungswaffen, die die Umwelt zerstörten und sowohl Kombattanten wie die Zivilbevölkerung töteten.

Abschreckung mit Atomwaffen ist ein fragiles Konstrukt

Gerne wird behauptet, Atomwaffen dienten der Abschreckung, doch der Ukrainekrieg zeigt, wie fragil die atomare Abschreckung ist. Das Risiko einer Eskalation ist unbestreitbar vorhanden. Die Drohungen Russlands , Atomwaffen einsetzen zu wollen, sind ein Warnzeichen an die Nato-Staaten. Im schlimmsten Fall droht sogar eine direkte Konfrontation zwischen Russland und der Nato. Ein Einsatz von Atomwaffen wäre mit dem Risiko eines globalen Atomkriegs verbunden. Dieses Szenario ist durchaus real und eine existentielle Gefahr.

1970 veröffentlichte der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker die Studie "Kriegsfolgen und Kriegsverhütung", die erstmals auch die Überlebensfähigkeit moderner Industriegesellschaften im Kontext der amerikanischen Abschreckungsstrategie thematisierte: "Man schätzt, dass die amerikanische wie die sowjetische Industrienation nicht als solche überleben kann, wenn sie mehr als 20 bis 25 Prozent ihrer Bevölkerung und 50 Prozent der Industriekapazität verlieren."

Schon damals bezweifelte Weizsäcker, dass Abschreckung mit Atomwaffen auf Dauer den Krieg verhindern könne. Allein die Kuba-Krise 1962 habe gezeigt, wie leicht es im Konfliktfall zu einem Einsatz von Atomwaffen kommen könne.

1984 appellierte Weizsäcker auf einem Vortrag an der Führungsakademie der Bundeswehr an uns Offiziere, der Rüstungswettlauf mit Atomwaffen müsse gestoppt werden. Um dem Frieden eine Chance zu geben, müsste alles versucht werden, um Atomwaffen abzurüsten. Haben wir diesen Appell ernst genommen?

Die Antwort lautet: leider nein. Seit 2018 werden im Pentagon  – wie auch in Russland – konkrete atomare Kriegsführungsstrategien geplant. Dahinter verbergen sich auch nukleare Einsatzoptionen mit taktischen Atomwaffen. "Die verheerenden Konsequenzen einer Kriegsführung mit Atomwaffen in Europa, wenn die Abschreckung versagt, werden dabei ausgeblendet und verharmlost", so Brigadegeneral a.D. Helmut W. Ganser .

Generäle sind in der Regel davon überzeugt, dass sie ihr Land verteidigen und schützen können. Ob sie allerdings dabei die Kriegsfolgen, die Beschädigung der Infrastruktur und die Verluste der Zivilgesellschaft realistisch einschätzen und quantifizieren können, wage ich zu bezweifeln .

Gleiches gilt für den Bundeskanzler und den Verteidigungsminister , die im Verteidigungsfall weitreichende Entscheidungen mit existentiellen Konsequenzen treffen müssten. Mir sind keine Kriegsfolgestudien bekannt, die sich aktuell mit einem Versagen der Abschreckung auseinandersetzen – und auch die Folgen eines Einsatzes der in Büchel gelagerten Atomwaffen durch deutsche Luftwaffenpiloten einkalkulieren und quantifizieren.

Die Nato könnte ein Angebot machen

Das 75-jährige Jubiläum wäre ein Anlass für den Nato-Gipfel in Washington, sich wieder verstärkt um Rüstungskontrolle und Abrüstung zu bemühen. Das wäre das Gebot der Stunde, das es zu nutzen gälte. Das Bündnis könnte Verhandlungsbereitschaft zeigen, Russland zu Gesprächen einladen und über Rüstungskontrolle verhandeln. Das wäre vielleicht ein erster Schritt, auch die verhärteten Fronten im Ukrainekrieg zu lockern. Vielleicht gelänge es sogar, über diesen Weg eine Rahmenvereinbarung zu treffen, wie über einen Waffenstillstand im Ukrainekrieg verhandelt werden könnte.

Ein Angebot der Nato, auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten, könnte dabei als Verhandlungseinstieg dienen. Diese einmalige Chance sollte die Nato nutzen. Das wäre dann ein Jubiläum, das vielleicht Geschichte schreiben könnte.

Rolf Bader, geboren 1950, ist Diplom-Pädagoge, ehemaliger Offizier der Bundeswehr und ehemaliger Geschäftsführer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte*innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte*innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)

Quelle: Berliner Zeitung - 08.07.2024.Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

Veröffentlicht am

09. Juli 2024

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