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Leute-Erzählungen und Legenden wider die Gewalt

Ein neuer Band der Tolstoi-Friedensbibliothek

Von Peter Bürger

Ein soeben in der Tolstoi-Friedensbibliothek erschienener Band enthält alle bedeutsamen "Volkserzählungen 1872-1909" von Leo N. Tolstoi: dargeboten gemäß der Gesamtausgabe des Übersetzers Erich Boehme aus dem Jahr 1925, ergänzt um einen bibliographischen Anhang.

In diesem Teil der dichterischen Werke wird besonders eindrucksvoll die Botschaft vermittelt, "dass nach Christi Lehre das Übel nicht durch Übel ausgerottet werden kann, sondern dass jedes gewaltsame Widerstreben es nur vergrößert, dass nach Christi Lehre das Übel nur durch das Gute ausgerottet werden kann". Derweil hängen die Herrschenden und ihre Staatskirchen zu allen Zeiten der irrationalen Heilslehre an, man müsse Gewalt mit Gewalt, Kriegsverbrechen mit weiteren Kriegsverbrechen und Eskalation beantworten. Solchem Aberwitz, der in der Geschichte noch immer in den Abgrund geführt hat, setzt Tolstoi seine Anwaltschaft der Vernunft und eine wahrhaftige Religion entgegen.

Die leutenahen Erzählungen, Legenden, Märchen und Gleichnisse des russischen Dichters spiegeln markante Stationen seiner literarischen Werkstatt. Aufgrund der Schulerfahrungen in Jasnaja Poljana fragt er sich schon 1862: "Wer soll bei wem schreiben lernen, die Bauernkinder bei uns oder wir bei den Bauernkindern?" Während seiner Arbeit an den "Alphabet"-Büchern bekennt Tolstoi 1872 seine Abneigung gegen Verfahren der anerkannten Literatur: "… die Sprache aber, die das Volk spricht …, liebe ich. Sie ist außerdem … der beste poetische Regulator. Man versuche nur, etwas Überflüssiges, Aufgeblasenes … zu sagen - diese Sprache wird es nicht erlauben". In die Zeit der existentiellen religiösen Suche fällt 1879 die folgenreiche Begegnung mit dem Legendenerzähler Wassili Petrowitsch Schtschegoljonok. Seit der Gründung des Verlages "Posrednik" (Vermittler) 1884 bis hin zum Lebensende erweist sich die Arbeit an Erzählungen und Lesewerken für die - keineswegs "kleinen" - Leute als ein Herzensanliegen Tolstois.

Die fünfunddreißig Texte dieser neu edierten Sammlung sind Botschafter eines wieder freigelegten christlichen Weges, der sich den ökonomischen, politischen und militärischen Säulen der Gewalt verweigert und allein der Liebe nachspürt. Zu den in der ganzen Welt bekannten Titeln gehören u. a. die Dichtungen:

Wovon die Menschen leben (1881);
Lösche das Feuer, solange es glimmt (1885);
Wo Liebe, da Gott (1885);
Iljas (1885);
Die beiden Brüder und das Gold (1885);
Der Taufsohn (1885);
Das Märchen von Iwan dem Dummkopf (1886);
Wieviel Erde braucht der Mensch? (1886);
Der Knecht Jemeljan und die leere Trommel (1887);
Die drei Söhne (1887);
Herr und Knecht (1895);
Die Zerstörung der Hölle und ihre Wiederaufrichtung (1902);
König Assarhaddon von Assyrien (1903);
Drei Fragen (1905).

Das "Märchen von Iwan dem Dummkopf", welches besonders eindrucksvoll die Anliegen des Dichters vermittelt, schrieb Tolstoi im Jahr 1885; es ist eine verdeckte Kritik an Zarenherrschaft, Militarismus und Weltgefüge im Dienste der Reichen. Dieses ‚politische Märchen’ wider die Symbiose von Münze, Macht und Militär, das - aufgrund eines klugen Vorgehens - 1886 unerwartet die russische Zensur passieren konnte und erst 1892 den Behörden mit Blick auf die populäre Verbreitung missliebig war, erzählt die Geschichte der drei Söhne eines durchaus begüterten Bauern:

Der Krieger Semjon und der wohlhabende Kaufmann ‚Dickwanst Taras’, die im weltlichen Sinn als erfolgreich gelten, handeln so rücksichtslos, dass der Familienfrieden leicht zerbrechen könnte. Doch Iwan, der als einfältig geltende dritte Sohn, hindert dies. Er bestellt mit Zähigkeit den elterlichen Bauernhof, versorgt den Vater sowie eine stumme Schwester und fügt sich gutmütig gar den ungerechten Ansprüchen der gierigen Brüder. Diesen Familienfrieden wider alle Erwartung kann ein alter Satan nicht ertragen. Er schickt zunächst drei nur bedingt erfolgreiche Unterteufel, um die Brüder zu entzweien. Sodann geht der Oberteufel selbst ans Werk. Am Ende werden Semjon (Militär, Waffenindustrie) und Taras (Kapital), die im Zusammenspiel beide zum Zarenstatus (politische Macht) aufgestiegen sind, zugrunde gerichtet sein. Der dritte Sohn Iwan erweist sich jedoch durchgehend als immun gegenüber den zerstörerischen Verführungen der Teufel. Soldaten sind in seinen Augen allein nützlich, wenn sie den Menschen lustig zur Musik aufspielen (danach muss man sie sofort wieder zurück in ‚Stroh’ verwandeln). Goldmünzen verschaffen ihm nur ein Gaudi, wenn er sie in die Luft werfen und unter die Leute verschenken kann (sobald das Geldgefüge den Leuten Not bringt, muss man es sabotieren). Seine allerletzte, von einem der Unterteufel überlassene Heilwurzel gebraucht der ehrliche "Dummkopf", der sich nicht korrumpieren lässt, zugunsten eines kranken Bettelweibs. Die Königstochter kann er merkwürdigerweise auch ohne das Zaubermittel heilen, was ihm den Königsthron einbringt. Es wird den "Teufeln" nicht gelingen, auch den ebenfalls zur Königswürde gelangten Bauern Iwan zu ruinieren …

Leo N. Tolstoi: Volkserzählungen 1872 - 1909.
Übertragen von Erich Boehme. (= Tolstoi-Friedensbibliothek - Reihe C, Band 10).
Norderstedt: BoD 2024. (ISBN: 9783759753243; 464 Seiten; Paperback; 16,90 €).
https://buchshop.bod.de/volkserzaehlungen-1872-1909-leo-n-tolstoi-9783759753243

Projektseite der Tolstoi-Friedensbibliothek mit Übersicht und Informationen über die gesamte Reihe (einschließlich der kostenfrei abrufbaren Digitalversionen): www.tolstoi-friedensbibliothek.de

Veröffentlicht am

13. Juli 2024

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