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Verhungernlassen als Waffe

Es ist mittlerweile erwiesen, dass Israel den Hunger als Kriegswaffe einsetzt und verhindert, dass ausreichend Lebensmittel in den Gazastreifen gelangen. Die israelische Regierung hat diese Absicht sogar angekündigt und das Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) ignoriert, die Blockade von Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten einzustellen. Die deutsche Regierung und die israelischen Medien bestreiten den Einsatz des Hungers als Waffe und erkennen nicht an, dass es sich um einen Akt des Völkermords handelt. Wird er auch in den deutschen Medien thematisiert werden?

Im März veröffentlichte das Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und  Palästinensern (BIP) einen Bericht über den Hunger in Gaza ( BIP-Aktuell #295 ). Human Rights Watch veröffentlichte bereits im Dezember eine Warnung, dass der Hunger in Gaza keine Naturkatastrophe ist, sondern ein vorsätzlicher Einsatz als Kriegswaffe und damit ein Kriegsverbrechen. In der Tat haben die israelische Politik und das israelische Militär keinen Hehl daraus gemacht, dass sie die palästinensische Bevölkerung aushungern wollen, wie Verteidigungsminister Yoav Gallant in seiner Rede vom 9. Oktober sagte: Die Palästinenser in Gaza werden vom Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten abgeschnitten. Dies deutet auf die Absicht hin, einer Bevölkerung die notwendigen Lebensbedingungen zu entziehen, ein Verbrechen gemäß Artikel 2 c der Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord. Am 26. Januar entschied der IGH, dass Israel die Maßnahmen nach Artikel 2 der Konvention einstellen muss, eine Anordnung, die Israel ignorierte.

Die israelischen Zeitungen berichteten nicht über die Hungersnot in Gaza, was die Frage aufwirft, ob die israelische Öffentlichkeit sich der begangenen Gräueltaten bewusst ist. Als die Türkei Sanktionen gegen Israel ankündigte und die Ausfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck ("dual-use") aus türkischen Häfen so lange blockiert (siehe BIP-Aktuell #302 ), bis Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangen dürfen, antworteten die israelischen Zeitungen mit Unverständnis, denn Hilfsgüter dürfen, so behaupteten sie, nach Gaza gelangen.

Es hat sich eine Gruppe von Israelis als Bewegung gebildet, die sich "Tsav 9" oder "Befehl Nummer Neun" nennt (der Name bezieht sich auf den Befehl Nr. 8, den Notruf zur Einberufung von Reservisten), um Lastwagen mit Hilfsgütern, insbesondere mit Lebensmitteln, zu blockieren, in einen Hinterhalt zu locken und anzugreifen, bevor sie in den Gazastreifen gelangen können. Dies zeigt, dass das Wissen um die Verweigerung von Hilfsgütern unter Israelis durchaus vorhanden ist. Die radikalen Aktivisten brachten ihre Kinder mit, um sich an der Erstürmung der Lastwagen für Hilfsgüter zu beteiligen und die Lebensmittel auf dem Boden zu zerstreuen, damit die hungernden Menschen in Gaza nichts bekommen. Die israelische Polizei unternahm nichts, um die Lastwagen zu schützen. So konnten die Hilfsgüter nicht mehr über israelisches Gebiet nach Gaza geliefert werden.

Anstatt die Waffenlieferungen an Israel zu stoppen, um Druck auf Israel auszuüben, damit das Töten aufhört, versprachen die USA, eine schwimmende Anlegestelle einzurichten und Schiffen die Lieferung von Lebensmitteln nach Gaza vom Meer aus zu ermöglichen, aber die Anlegestelle wurde von der Strömung weggerissen. Es kann den Israelis somit nicht unbekannt sein, dass nicht genug Lebensmittel den Gazastreifen erreichen.

In ihrem Artikel in Haaretz vom 6. April verwies Prof. Dr. Yuli Tamir auf das absichtliche Aushungern der Menschen in Gaza. Tamir repräsentiert die Mitte der israelischen Gesellschaft. Sie war einst Mitbegründerin der Peace-Now-Bewegung und von 1999 bis 2001 Bildungsministerin in der Regierung von Ehud Barak, später Vorstandsmitglied des größten israelischen Rüstungsunternehmens Elbit Systems und ist derzeit Präsidentin des Beit Berl College für Bildung. In ihrem Artikel verwendete Tamir nicht den Begriff "Völkermord" (sonst hätte Haaretz ihn kaum veröffentlicht), sondern schrieb einfach, dass das absichtliche Aushungern ein Verbrechen ist, das das Existenzrecht des Staates Israel in Frage stellt. Eine solche Aussage von einer der Führerinnen der israelischen Arbeitspartei, die ihr Leben dem Dienst am Staat gewidmet hat und 2019 ein Buch mit dem Titel "Why Nationalism?" veröffentlicht hat, um den israelischen Patriotismus zu rechtfertigen, ist ein Weckruf für deutsche Politiker, die über Israels "Existenzrecht" wie ein Mantra sprechen. Das vorsätzliche Verhungernlassen hat alle Grenzen des Humanitären Völkerrechts überschritten.

Bei seinem Besuch in Israel sagte Bundeskanzler Olaf Scholz: "Wir können nicht danebenstehen und riskieren, dass Palästinenserinnen und Palästinenser Hunger leiden" - eine unklare Aussage. Sie weist zwar auf die Verantwortung Deutschlands hin, das nicht tatenlos zusehen darf, wie Menschen verhungern. Sie bedeutet aber auch nicht, dass Deutschland seine Waffenexporte nach Israel einstellen wird. Scholz’ Erklärung war lediglich eine freundliche Warnung an Israel, aber die israelische Regierung, die das Urteil des IGH bereits ignoriert hat, ignoriert natürlich auch die Warnung von Scholz und demaskiert sie als leere Worte.

Der Hunger ist nicht auf den Gazastreifen selbst beschränkt. Es gibt zahlreiche Berichte darüber, dass Palästinenser in israelischen Gefängnissen und Gefangenenlagern, insbesondere im Gefangenenlager Sde Teiman ("Jemen-Feld") in der Wüste, ausgehungert wurden, unabhängig davon, ob die Gefangenen aus dem Gazastreifen oder aus dem Westjordanland stammten. Mindestens 27 Gefangene starben in israelischen Gefängnissen an einer Kombination aus Hunger und körperlicher Folter. Nur wenige Gefangene wurden freigelassen, darunter der Direktor des Al-Shifa-Krankenhauses, Dr. Muhammed Abu Salmiya, der die Haftbedingungen und die unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln beklagte. Der für die Gefängnisse zuständige israelische Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, wies die Anschuldigungen nicht zurück, sondern erinnerte daran, dass er versprochen hatte, die Bedingungen für palästinensische Gefangene zu verschlechtern, und dass "eine Todesstrafe für Terroristen das Problem der überfüllten Gefängnisse lösen wird". Wenn Gefangene ohne Gerichtsverfahren und unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten werden und keine Nahrung zum Überleben erhalten, kann dann ihr Haftort noch als "Gefängnis" bezeichnet werden?

Am 3. Juli veröffentlichte Haaretz endlich einen Bericht von Reuters über die Hungersnot in Gaza. Diese Zeitung hatte es bisher vermieden, Fotos von verhungernden Kindern zu zeigen, weil sie sofort Assoziationen zum Holocaust hervorrufen und die Zeitung somit zwingen würde, von einem Völkermord zu sprechen. Dieser Reuters-Bericht, der sich auf Recherchen von UNICEF stützt, enthielt jedoch Fotos. Die Daten der IPC (Integrierte Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphase - Integrated nourishment Phase Classification) zeigen, dass mehr als eine Million Menschen in Gaza an akuter Unterernährung leiden. Kinder werden für den Rest ihres Lebens gesundheitliche Probleme haben. Wie der Nobelpreisträger und Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen schrieb, verursacht eine Hungersnot dauerhafte und verheerende Schäden in einer Gesellschaft, die jeden Aspekt des Lebens beeinträchtigen, und selbst nach lediglich einigen Monaten der Hungersnot dauert es Jahrzehnte, bis sich die Menschen davon  erholen.

Oxfam veröffentlichte einen dringenden Appell an die Welt, einzugreifen und die Hungersnot zu beenden. Oxfam warnt, dass die Hungersnot eine Folge des israelischen Angriffs und der Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft ist. "Nennt es Hungersnot oder nennt es nicht Hungersnot - so oder so stehen Menschenleben auf dem Spiel."

Quelle:  BIP e.V. - BIP-Aktuell #311 (hier ist der Artikel mit zahlreichen Quellenhinweisen verlinkt).

Veröffentlicht am

10. Juli 2024

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