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Über die “Klage des Friedens” (1517) des Erasmus von Rotterdam

Die "scheinbar unverändert andauernde Aktualität" dieser pazifistischen Hauptschrift des Humanisten ist faszinierend und deprimierend zugleich

Vorbemerkungen zu diesem Beitrag: Der antimilitaristische Schweizer Pfarrer, Theologe und religiöse Sozialist Rudolf Liechtenhan (1875-1947) veröffentlichte fünf Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg in banger Sorge um den Fortgang einer vom Gewalt-Aberglauben gelenkten "Zivilisation" seine Übersetzung der pazifistischen Hauptschrift des Humanisten Erasmus von Rotterdam. Vertreter der christlichen Friedensbewegung haben unter Heranziehung dieser inzwischen gemeinfreien Übertragung eine Neuedition der "Querela Pacis" (Klage des Friedens, 1517) vorgelegt, so dass seit kurzem erstmalig eine Fassung des "Klassikers" für die deutschsprachige Leserschaft auch allgemein im Internet abgerufen werden kann: "Alle müssen sich gegen den Krieg verschwören und ihn gemeinsam verlästern". Die Publikation ist zunächst als Digitalausgabe erschienen und kann jetzt auch in Buchform bezogen werden. Auf Bitte des Herausgebers hin hat Eugen Drewermann das nachfolgend dokumentierte Vorwort zu dieser Ausgabe verfasst. (Peter Bürger).

Von Eugen Drewermann

Vorwort zu "Erasmus von Rotterdam: Klage des Friedens"

Inmitten einer Welt des Krieges erhebt die Friedenssehnsucht unablässig ihre unerhörte Klage: Sie liegt in der Natur des Menschen, sie macht uns allererst zu Menschen, und sie entspricht dem Kern der Botschaft Jesu, meint Erasmus.Erasmus von Rotterdam: Die Klage des Friedens. Querela Pacis. Zweisprachige Ausgabe von Kai Brodersen. Wiesbaden 2018, S. 87. - Die Ziffern bei den nachfolgenden Zitaten im Vorwort sind Seitenangaben zu dieser Ausgabe. Jedoch: wo denn in der Geschichte der Menschheit fände je sich Frieden? Man hat ihn von der Welt verjagt, so gründlich, dass die Gewöhnung an das Grauen des Krieges längst schon "das Wahrnehmungsvermögen für das Böse" beim auftragsgemäßen Ermorden von Menschen auf den Schlachtfeldern der Welt nahezu unempfindlich gemacht hat (Querela Pacis: Übersetzung Kai Brodersen, S. 34). Wie von Furien gehetzt, erkennen die Menschen in ihrem Unglück "die Schwere der eigenen Krankheit" nicht mehr, Krieg und Kriegsbereitschaft sind "ein für allemal eine Art Ozean aller Übel, … die es überhaupt … gibt." (S. 28) Jeder weiß das. Dennoch gilt es "fast als Kapitalverbrechen", wenn man von Frieden auch nur spricht (S. 61).

Was des Erasmus "Klage des Friedens" wohl am meisten faszinierend, aber auch am meisten deprimierend macht, ist ihre scheinbar unverändert andauernde Aktualität. "Frieden braucht Verteidigung" liest man derzeit (im Mai 24) auf den Werbeplakaten der Spitzenkandidatin der FDP für das EU-Parlament; vordem musste man sich kriegsertüchtigen, um die Freiheit zu verteidigen; jetzt, seit Beginn des "russischen Aggressionskriegs" am 24. Februar 22 in der Ukraine, gilt in politischer Korrektheit als ein Kriegsbefürworter, wer noch, wie zum Beispiel Papst Franziskus, einen Verhandlungsfrieden fordert, statt einer ständigen Ausweitung und Verlängerung der Kampfhandlungen. Ein Gegner wie der russische "Diktator" versteht nach Meinung des derzeitigen Außenministeriums der BRD allein die Sprache der Gewalt, und erst wenn er besiegt ist, darf man mit ihm reden. Also: der einzige Weg zum Frieden ist ein gewonnener Krieg, und um ihn zu gewinnen, muss man soviele Menschen töten und soviel an Material zerstören wie nur möglich, bis dass der Gegner in Ermangelung an Mannschaft und an Nachschub zur Aufgabe gezwungen ist. Die Hunderttausende von Toten, die diesen Pfad zum Siegfrieden in ein Meer von Blut verwandeln, haben weder Skrupel noch Bedenken zu erregen, denn die Schuld daran trägt ausschließlich, wie stets, der Gegner, man selbst - versteht sich - tritt allein für Recht und Ordnung ein; man bekämpft das Böse als Verteidiger des Guten, denn wohlgemerkt: man schützt heroisch und entschlossen den Wert der Menschlichkeit gegen die Inhumanität von Willkür und Gewalt.

"… wie unchristlich wir unter dem Diktat der Mächtigen in Politik und Wirtschaft dahinleben"

Ist wirklich da Erasmus noch als "Humanist" zu würdigen, wenn er genau ein solches Denken als einen eklatanten Widerspruch zu den Grundsätzen menschlicher Moral sowie den Mahnungen des Christentums erklärt? Fest steht: seine "Klage des Friedens" ist eine kompakte Anklage gegen die als ganz normal geltende Friedlosigkeit der Welt. Sie macht bewusst, wie unnatürlich, unmoralisch und unchristlich wir unter dem Diktat der Mächtigen in Politik und Wirtschaft dahinleben, und fordert dazu auf, den allenthalben anzutreffenden Zustand staatlicher Handlungsweise und Verwaltung nicht länger hinzunehmen - im Namen unseres eigenen Gewissens und der Stimme Gottes, die uns sagt: Du sollst nicht töten. Vernunft und Frömmigkeit verlangen einmütig nach Frieden; die Tür zum Krieg hingegen ist die Torheit und ihr verführerischer Prunk die Perversion des Religiösen.

Die Torheit ist gepaart, ja ganz identisch mit Mitleidlosigkeit, Hartherzigkeit und Blindheit. - Wie kurz ist jedes Menschenleben und wie viel an Leid legt die Natur ihm auf? "Wie vielen Krankheiten, wie vielen Unglücksfällen ist es ausgesetzt!" fragt rhetorisch Erasmus, um fortzufahren: "obwohl es schon von sich aus mehr Übel mit sich bringt, als man ertragen kann, verursachen die Verrückten sich dennoch den größten Teil der Übel selbst. Eine solche Blindheit hat die Sinne der Menschen besetzt, dass sie nichts davon durchschauen … Sie kämpfen überall und ständig miteinander, und es gibt kein Maß und kein Ende. Es stößt Volk mit Volk zusammen, Stadt mit Stadt, … Fürst mit Fürst, und wegen der Dummheit oder wegen des Ehrgeizes zweier Menschlein, die bald wie Eintagsfliegen dahinsterben müssen, werden die menschlichen Dinge hinauf und hinab verwirrt." (S. 53)

Die "menschlichen Dinge" - sie lehrten eigentlich uns Demut, Mitgefühl und Eintracht, hat doch die Natur selbst uns "wehrlos und gebrechlich" hervorgebracht, so dass wir ohne den "Antrieb zur gegenseitigen Liebe" gar nicht überleben könnten (S. 32; 33). Wer daher das Wort "Mensch" vernimmt, der sollte glauben, es kündige dem Frieden eine Heimstatt an. Aber stattdessen: allerorten Streitigkeiten, Advokaten, Ringmauern und kaum ein Haus, in dem "wenigstens ein paar Tage lang Platz" für den Frieden wäre (S. 35). Hat man die Staaten und Regierungen nicht eingerichtet, dass sie Frieden hüteten und Ordnung hielten? Jedoch gerade an den Fürstenhöfen erkennt man "nicht einmal den Schatten wahrer Eintracht … Alles … geschönt und erlogen, durch offene Parteiungen, geheime Intrigen und Rivalitäten vollständig zerrüttet … von hier (stammen) die Quellen und Keime aller Kriege." (S. 36) Denn ständig geht hinter der zelebrierten Maskerade eitler Freundlichkeit und Feierlichkeit erbarmungslos der Kampf um Geld und Geltung weiter.

Ein Nachbarland, wie Frankreich um 1517, als Erasmus seine Friedensklage formulierte, lebt zum Beispiel relativ in Glück und Wohlstand, - und was folgt? Eben seines Wohlstands wegen wird es angegriffen (S. 56)! Es droht stärker zu werden als man selbst! Neid, Konkurrenz und Missgunst bedingen einen steten Streit, um kleinliche Vorteile im Konkurrenzkampf zu erhaschen oder zu verteidigen. - Die Wehrlosigkeit unserer menschlichen Natur führt also gerade nicht, wie wünschenswert, zu Hilfsbereitschaft und Verständigung, - wenn sie das tut, dann allenfalls in Überlagerung der Angst vor der Gefahr, die ein Mensch einem anderen bedeutet. Sobald der eine sich an Machtmitteln als stärker zu erweisen droht als ein anderer, schließt man sich kriegsbereit in Bündnissen zusammen, um mit ihm gleichzuziehen, und vermehrt dadurch das Übel der Gewalt anstatt es zu verringern.

"So viel steht fest: Tiere zünden keine Wasserstoffbomben …"

Die Tiere möchte man unter diesen Umständen beneiden, dass sie mit Waffen ausgestattet sind, die ihnen im Rivalitätskampf und beim Beutefang behilflich sind; die Menschen, weil sie wehrlos auf die Welt gekommen sind, rüsten sich auf "mit höllischen Kriegsmaschinen … Wer mag … glauben," fragt fassungslos der Friede des Erasmus, "dass Kanonen eine Erfindung des Menschen sind?" (S. 57) Bei Goethe bringt’s der Teufel auf den Punkt, wenn er dem Liebe und Wahrheit suchenden Faust den Irrsinn des menschlichen Treibens mit den Worten erklärt: "Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, um tierischer als jedes Tier zu sein."

So viel steht fest: Tiere zünden keine Wasserstoffbomben, um Millionen Menschen auf einen Schlag zersprengen, verbrennen und verstrahlen zu können. Wie kann es überhaupt geschehen, dass man es als Heldentum hochpreist, wenn jemand sein Schwert schneller in die Eingeweide seines Gegners stößt, als dass ihm dieser seinen Kopf abschlagen könnte? Für so etwas mag man "junge Männer" begeistern, "denen der Krieg so sehr gefällt, weil sie noch nicht erfahren haben, wie viel Übel er hat." (S. 71) Den Worten nach sühnt man im Krieg eine Rechtsverletzung; doch welch eine Begründung wäre zu "geringfügig, dass sie nicht ein geeigneter Anlass für den Krieg zu sein scheint?" (S. 58) "Ja, wo gar kein Grund vorhanden ist, denken sie (sc. die Regierenden, d. V.) sich selbst Gründe für Zerwürfnisse aus, indem sie die Ländernamen (sc. Nationalinteressen, d. V.) zum Schüren des Hasses missbrauchen." (S. 74)

Besonders "den profanen Namen ‚Vaterland’" führen sie "als gewichtigen Grund" an, "warum ein Volk nach der Vernichtung eines anderen Volkes trachtet." Als wäre nicht "diese Welt das gemeinsame Vaterland aller"! (S. 75). Und stimmt es denn überhaupt? Man bekämpft im Krieg das Verbrechen? Gerade darin besteht die zentrale Lüge aller Kriegsbegründer! Der Krieg selbst ist eine einzige Aneinanderreihung von Verbrechen, die man verüben muss, um über die vorgegebenen oder vermeintlichen "Verbrecher" siegreich zu werden. "Wenn du Raubzüge verabscheust: Eben diese lehrt der Krieg. Wenn du Vatermord verfluchst: Den lernt man im Krieg. Wie sollte denn einer noch Hemmungen haben, im Affekt einen einzigen umzubringen, der, für ein kleines Handgeld gedungen, so viele Menschen absticht? … Der Krieg ist der Lehrmeister all dieser Dinge." (S. 78)

Der Krieg verhindert demnach absolut keine Verbrechen, er ist im Gegenteil die schlimmste Schule sämtlicher Verbrechen. Wenn es im Jahr 2024 in der BRD eine verfassungsfeindliche Beleidigung ist zu sagen: "Soldaten sind Mörder", dann bezeichnete im Jahre 1517 schon Erasmus Soldaten als bezahlte Auftragsmörder, die "für ein paar Goldstücke zum Schlachten und Mord gedungen sind." (S. 62) In summa: Der Krieg ist "die allgemeine Krankheit des Erdkreises." (S. 61) Oder anders ausgedrückt: er ist in Vorbereitung, Durchführung und ideologischer Rechtfertigung die Geisteskrankheit, der Wahnsinn, die vollendete Verrücktheit des Politischen.

"Perversion der Botschaft Jesu in der unverschämten Kirchenlüge von der göttlichen Beauftragung des Staates"

Dringend benötigt würde also zur Durchsetzung der einfachsten Forderungen der Vernunft eine von Grund auf wirksame Therapie. Doch jetzt kommt alles noch schlimmer dadurch, dass man die einzige und beste Medizin gegen die paranoische Psychose des Politischen: das Christentum, gerade dieses, in eine Kriegsdroge für Süchtige verwandelt hat. Ärger als alle Amphetamine zum Aufputschen von Aggressionen wirkt die perfekte Perversion der Botschaft Jesu in der unverschämten Kirchenlüge von der göttlichen Beauftragung des Staates, mit dem "Schwert der Gerechtigkeit" die Urteile Gottes im Himmel auf Erden zu vollziehen. "Schwertjustiz", das heißt: Gewaltjustiz, das heißt Todesstrafe, das heißt: Krieg. Und es heißt, dass das Gottesbild eines vergebenden und gütigen, gerade nicht strafenden Hintergrundes dieser Welt, das Jesus uns zur Befriedung der Welt im Namen seines "Vaters im Himmel" zu bringen kam, beiseite gestellt wird zugunsten der ideologischen Rechtfertigung einer Machtausübung im Stil und Vorbild altorientalischer Dynasten.

Was Erasmus davon abhält, den theologischen Verdrehungen der Botschaft Jesu in der kirchlichen Lehre und Praxis Glauben zu schenken, ist die Konkretion der Vorstellung. "Wie kannst du mit dem Mund den gemeinsamen Vater anrufen, wenn du in die Eingeweide deines Bruders das Schwert stößt?" fragt er (S. 46). Wie soll man einen Papst wie Julius II., der schon in seinem Namen den römischen Feldherrn Gajus Julius Caesar sich zum Vorbild gesetzt hat, im Sinne des Friedensfürsten Jesus Christus tätig glauben! Doch es ist zu allen Zeiten das gleiche: die gesamte klerikale Entourage steht submissest zur Verfügung. Voller Empörung muss der "Friede" des Erasmus feststellen: "Es schämen sich nicht die Theologen, die Lehrer christlichen Lebens, es schämen sich nicht die Bekenner (professores) der vollkommenen Religion, es schämen sich nicht die Bischöfe, es schämen sich nicht die Kardinäle und Stellvertreter Christi, Urheber und Brandstifter jener Sache zu sein, die Christus so sehr verachtet hat. Was hat die Mitra mit dem Helm gemein? Was der Krummstab mit dem Schwert? Was das Evangelienbuch mit dem Schild? Wie verträgt es sich, das Volk mit dem Friedenswunsch zu begrüßen und den Erdkreis zu den blutigsten Schlachten aufzuhetzen, mit der Zunge Frieden zu geben, tatsächlich aber Krieg zu entfesseln? Du lobst mit demselben Mund, mit dem du Christus als Friedensstifter predigst, den Krieg, und auf derselben Trompete besingst du Gott und Satan? Du stachelst beim Gottesdienst, in die heilige Kutte gehüllt, das einfache Volk zum Morden an, das aus deinem Mund die Lehre des Evangeliums erwartete?" (S. 59)

"Mit immer ausgeklügelteren Mordgeräten … vorangetrieben mit den scheinheiligen Gebeten ihrer Militärgeistlichen"

Das Resultat solch einer unsäglichen Heuchelei und Verlogenheit ist ein "christliches" Europa, in dem Jahrhundert um Jahrhundert Christen zu Hunderttausenden über Christen herfallen und sich mit technisch immer ausgeklügelteren Mordgeräten niedermachen, gesegnet und vorangetrieben mit den scheinheiligen Gebeten ihrer Militärgeistlichen, für die nicht mehr gilt, dass wir alle in Christus Brüder sind, sondern für die es ein neues Dogma geworden ist, es sei der "wahre" Gott erst der der eigenen Konfession, dann der der eigenen Nation, so dass ein Christ einen anderen Christen zerstechen, zersprengen und vergasen muss, weil er selbst ein Deutscher, der andere aber ein Franzose, Brite, Italiener oder Russe ist. Sogar das Zeichen der Gemeinsamkeit und des Heiles, das Symbol des Kreuzes, ist zu einem Abzeichen militärischer Großtaten verkommen. Das Sakrament des Abendmahles, das man ins Kriegslager trägt, soll jetzt dazu ermutigen, dass derjenige, der es eben als Bild der größten Eintracht empfangen hat, "in die Schlachtenreihe rennt, das grässliche Eisen in die Eingeweide des Bruders stößt und für die allergrässlichste Tat, die den Höllengeistern höchstes Entzücken bereiten muss, Christus zum Zuschauer macht … Was schließlich das Allerabsurdeste ist: In beiden Feldlagern und an beiden Schlachtreihen … werden Gottesdienste abgehalten. Was ist das für eine Ungeheuerlichkeit: Es kämpft das Kreuz mit dem Kreuz, Christus führt gegen Christus Krieg! … Die Menschen sind nicht irgendeines Kreuzes würdig, sondern nur des wahren. Ich frage, wie kann ein Soldat in diesen Gottesdiensten das Vater unser (Mt 6, 9 ff.) beten?" (S. 63)

Bekanntlich kann und tut er es, freilich derart theologisch betäubt in seinem Wahrheitsempfinden, dass er nicht mehr merkt, wie jedes Wort in seinem Munde das Gebet des Herrn in eine zynische Blasphemie verwandelt, - man muss es nur durchgehen, wie Erasmus es tut: "Du harter Mund wagst es, ihn (sc. Gott, d. V.) Vater zu nennen, der du die Kehle deines Bruders durchschneiden willst? Geheiligt werde dein Name: Wie könnte der Name Gottes mehr geschändet werden als durch solches Getümmel unter euch? Dein Reich komme: So betest du, der du durch so großes Blutvergießen deine Tyrannis errichtest. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden: Jener (sc. Gott, d. V.) will den Frieden, und du rüstest zum Krieg. Das tägliche Brot erbittest du vom gemeinsamen Vater, der du die Saatfelder des Bruders verbrennst und lieber willst, dass sie auch für dich nutzlos werden, als dass sie ihm nützen? Mit welchem Mund wirst du jenes sagen: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, der du zum Brudermord eilst? Du suchst durch Beten die Gefahr der Versuchung abzuwenden, der du unter deiner eigenen Gefahr den Bruder in die Gefahr hineinziehst. Du verlangst, vom Übel erlöst zu werden, durch dessen Einflüsterung du gegen den Bruder das schlimmste Übel ausheckst?" (S. 63-64)

Eine Kirche, die, quer durch die Zeit, verstärkt sogar noch durch den politisch hoch aufgeladenen Konfessionsstreit, nicht müde wird, an allen Frontabschnitten mit Gebetsgottesdiensten ihre Gläubigen auf eine solch verlogene Weise "beten" zu lehren, damit der Herr im Himmel bei dem bevorstehenden Menschenmassaker auf Erden den erfolgreichsten Schlächter als Sieger segne, - eine solche Kirche müsste längst als Künderin des Gotteswortes diskreditiert sein. Es ist allein der nicht auszurottenden Friedenssehnsucht der Menschen zuzuschreiben, wenn immer noch die Hoffnung gehegt wird, die unverfälschte Haltung Jesu möge endlich - trotz oder wohl auch vermittels der Kirche - vor aller Augen in Erscheinung treten, denn sie ist ein klares und bedingungsloses Bekenntnis zum Frieden, ohne jedes Wenn und Aber. Sie allein bietet die Erlösung von der Furie des Krieges, indem sie im Falle eines ungerechtfertigten Angriffs den Angstreflex unterbindet, mit aller Macht zurückzuschlagen.

"Dynamik des Wahnsinns militärischer Gewalt … In Wahrheit schafft man … nur eine alles bedrohende Ausdehnung der Gefahrenlage"

Der gesamten Dynamik des Wahnsinns militärischer Gewalt unterliegt das Bestreben, die Angst vor dem potentiellen Angriff eines Gegners zu beantworten mit der Angst, die wir ihm durch die Drohkulisse des eigenen Gefahrenpotentials bereiten. Die militärische "Abschreckung" wird damit zum Instrument der eigenen Sicherheit. Bis in die Gegenwart ist dieses Denken politisch in immer größer sich organisierenden Formationen vorherrschend. In Wahrheit aber schafft man auf diese Weise keine höhere Sicherheit, sondern nur eine alles bedrohende Ausdehnung der Gefahrenlage: Die Angstflucht in die Angstverbreitung zur Einschüchterung des Gegners kann nur zu dem Teufelskreis ständiger Aufrüstung und immer neuer Formen überraschender Möglichkeiten wechselseitiger Vernichtungsdrohungen führen. Statt Sicherheit Unsicherheit, statt Frieden Krieg, statt Versöhnung Dauerkonflikte um wechselnder Machtvorteile willen, - das ist die Bilanz dieses allerorten üblichen "Kampfs gegen das Böse".

Dass Erasmus im 16. Jahrhundert nicht die Mittel psychologischer Erklärungsmöglichkeiten zur Verfügung standen, wie sie hernach in der Philosophie des 18. Jhs. entwickelt wurden, macht es zur Begründung einer christlichen Erlösungslehre (Soteriologie) erst recht unumgänglich, seine ebenso hellsichtige wie zentral zutreffende Akzentuierung auf die eine Aussage Jesu in der Thematik von Krieg und Frieden aufzugreifen und in ihren Konsequenzen zu Ende zu denken: "Leistet dem Bösen keinen Widerstand." (Mt 5, 39)

Erasmus stellt diese Aussage in den erweiterten Zusammenhang des Machtstrebens, das sich durchaus auch als Überkompensation eigener Minderwertigkeitsgefühle verstehen lässt, und schreibt: "Weil er (sc. Christus, d. V.) … wusste, dass dort kein Friede bestehen kann, wo um ein Staatsamt, um Ruhm, um Reichtum, um Vergeltung gestritten wird, wie riss er da mit Stumpf und Stiel derartige Leidenschaften aus dem Herzen der Seinen, verbot ihnen insgesamt, dem Bösen Widerstand zu leisten …, hieß sie, denen, die ihnen Übles tun, dies mit Gutem zu vergelten und, wenn sie könnten, denen Gutes zu wünschen, die ihnen Böses wünschen (Mt 5,44)." (S. 47) Jesus wollte das gesamte Gezänk um Geltung und Geld beendet sehen; doch als die Hauptursache der unablässigen Kriegsvorbereitungen und Kriegsdurchführungen suchte er die Illusion zu enden, man könne das Böse im Kampfmodus angehen und gewaltsam aus der Welt schaffen. Gerade die schlimmsten Formen des Bösen haben ihre je eigenen Ursachen, und nur wenn man diese in ihrer jeweiligen Eigenart bewusstmacht und durcharbeitet, wird es gelingen, die sich daraus ergebenden Symptombildungen zu erübrigen. Man muss die an sich berechtigten, aber bislang nur bekämpften Bedürfnisse hinter dem als böse in Erscheinung tretenden Begehren aufgreifen und durchgehen, um sie auf geordneten Bahnen zur Erfüllung zu führen. Es gilt daher, meint Jesus, auf das Böse mit Gutem zu antworten und es mit Güte zu verwandeln bzw., wie Paulus formuliert: "Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem." (Röm 12,21)

"Setzt," schlägt Erasmus vor, um diesem zentralen biblischen Standpunkt eine begreifbare Begründung zu geben, " gegen die Gefahr ein, was Versöhnlichkeit vermag, was Wohltätigkeit. Krieg wird aus Krieg gezeugt, Rache zieht Rache nach sich. Nun aber möge Wohlwollen Wohlwollen schaffen und Wohltat zu Wohltat einladen, und derjenige soll als königlichster gelten, der am weitesten auf seinen Rechtsanspruch verzichtet hat." (S. 88) Solche Herrscher werden "über fromme und glückliche Menschen gebieten, sodass sie mehr durch Gesetze als mithilfe der Waffen herrschen." (S. 88-89) "Schließlich werdet ihr jeder für den anderen und alle für alle lieb und zugleich angenehm sein, vor allem aber Christus willkommen, dem zu gefallen das höchste Glück ist." (S. 89)

"Kriegsgötzen der militärischen Propaganda": "Frieden als Ernteertrag von den Massenfriedhöfen der Weltgeschichte"

Eine derartige Befreiung von dem Angstreflex, auf Gewalt mit Gewalt zu antworten, sowie die bewusste Umkehrung dieser Fehleinstellung in die Gesinnung und Gestaltung eines aktiven Verstehens des ehedem feindlichen Standpunktes ist die wirkliche entscheidende Wendung zum Frieden. Man erntet nicht Trauben von den Dornen oder Feigen von den Disteln (Mt 7,16). Ebenso wenig wird man Frieden als Ernteertrag von den Massenfriedhöfen der Weltgeschichte in die Scheuer eines zivilisatorischen Fortschritts einfahren können. Dieses Urteil der Vernunft in sittlicher Absicht stimmt völlig überein mit dem Anliegen Jesu, die Menschheit durch Güte von der Logik der Gewalt zu erlösen. Was die Moral fordert, ermöglicht die Religion. Und man sieht: Frieden ist nicht ein beliebiges Anliegen unter anderen Agenden politischer Planung; Frieden ist das Richtmaß unseres gesamten Verhaltens im Sinne unserer Wesensbeauftragung - oder als dessen Verfehlung. Einzig im Frieden werden und bleiben wir Menschen. Krieg hingegen ist der Verlust eines wahren Vertrauens auf Gott und dessen Ersetzung durch die Idolatrie von Kriegsgötzen der militärischen Propaganda; Krieg ist, ineins damit, der gewollte Verlust unserer Menschlichkeit und deren Ersatz durch die verlogene Rhetorik "humanitärer Einsätze". Ginge es darum - wieviel an Leid wäre zu lindern mit den inzwischen 900 Milliarden Dollar des jährlichen Militärhaushaltes allein der USA, und wie viel an Leid wird erzeugt, weil man statt Menschlichkeit Macht sich zum Ziel setzt! Irgendwann widerlegen die Lügen sich selber.

"Das bleibende Vermächtnis eines jesuanischen Pazifisten von prophetischer Sprachkraft"

Aber: Theologen sind listige Leute. Sie finden Anhaltspunkte genug für ihre Kriegstreiberei "in jenem … so blutrünstigen und unerbittlichen Gesetz des Moses" (S. 59) und tuen dann so, als hätten sie die Worte Jesu und Pauli nie vernommen. Statt dessen führen sie den "Gott der Heerscharen" (Jes 1,24) und den "Gott der Rache" (Ps 94,1) ins Feld (S. 42) und übersehen oder verleugnen die radikale Veränderung, die Jesus bewirkt hat, indem er, nach dem Vorbild des Jeremia, das Gottesbild aus seiner Ambivalenz in Angst und Abhängigkeit herauslöste und in die Eindeutigkeit eines väterlich-gütigen Vertrauens umformte. Wenn also "die blutigen Gemetzel, von denen die Bücher der Hebräer voll sind," einen Sinn ergeben sollen, dann darf man sie, erklärt Erasmus, "nicht auf die Zerfleischung von Menschen beziehen …, sondern auf die Verjagung gottloser Leidenschaften aus der Brust" der Menschen (S. 42), - symbolisch, nicht wörtlich muss man sie verstehen.

Dann aber leuchtet die innige Verknüpfung der Friedensbotschaft Jesu in seiner Gestalt und in seinen Worten nur um so  heller hervor. Die Engel des Friedens (Lk 2,14) - "blasen sie etwa zum Angriff," fragt Erasmus, "verheißen sie etwa Siege, Triumphe und Trophäen? … Sie verkündigen den Frieden in Übereinstimmung mit den Weissagungen der Propheten … jenen, die durch ihren guten Willen zur Eintracht geneigt sind." (S. 44) So war es beim Eintritt Jesu in diese Welt. Und was hinterließ er seinen Jüngern bei seinem Abschied? "Etwa Pferde, etwa Leibwachen, etwa ein Reich, etwa Truppen?" (45) - heutigentags müssten wir sprechen von einem System weltraumgestützter atomarer Lenkwaffen, von vielfach vernetzten Geheimdiensten, von etwa 800 Militärstützpunkten allein der USA, von welchen aus jeder Punkt der Welt zu überwachen und nach Bedarf zu zerstören ist, von dem Anspruch globaler imperialer Machtausübung und von der Dauerpräsenz eigener Angriffs- und Gefechtsbereitschaft in Form von Waffenträgern zu Wasser, zu Lande und in der Luft … Jesus hinterließ uns eben keine Welt, in der wir als die Gefangenen der eigenen Angst hinter den Stacheldrähten unserer Absperranlagen und Sicherheitszäune, gehorsam den militärischen Weisungen, unser Leben verhocken müssten, sondern er hinterließ uns einen Frieden, wie die Welt ihn nicht zu geben vermag, einen Frieden jenseits der Angst und der Furcht (Joh 14, 27). (S. 45)

Die "Klage des Friedens" des Humanisten Erasmus fügt demnach nicht nur Vernunft und Frömmigkeit, Menschlichkeit und Religion in ihrer ursprünglich von Christus selbst intendierten Wesenseinheit wieder zusammen; ihr kommt das singuläre Verdienst zu, an entscheidender Stelle: am Thema des Friedens, die Perversionen der christlichen Theologie in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit ebenso aufgezeigt zu haben wie deren schamlose ideologische Ausnutzung in den Händen der Herrschenden. Dieses Manifest des Friedens ist selber ein Jungbrunnen zur Erneuerung des Daseins, eine geistige Wiedergeburt, wie Jesus sie im Gespräch mit dem Pharisäer Nikodemus für notwendig zum Eintritt in das Reich Gottes erklärte (Joh 3,3. 5). Sie ist das bleibende Vermächtnis und Beispiel eines jesuanischen Pazifisten von prophetischer Sprachkraft im Dienste einer unbestechlichen Wahrheitsliebe und Menschlichkeit. Und sein Appell gilt: "Wenn wir die Türken an die Religion Christi heranführen wollen, seien wir zuerst selbst Christen!" (S. 83-84)

Die friedensbewegte Neuedition der pazifistischen Hauptschrift des Erasmus mit dem Vorwort von Eugen Drewermann:

Erasmus von Rotterdam: Alle müssen den Krieg verlästern.
"Die Klage des Friedens" 1517, übersetzt von Rudolf Liechtenhan - mit einem Vorwort von Eugen Drewermann (= edition pace, Band 21). Norderstedt: BoD 2024. (ISBN: 978-3-7583-8178-2; Paperback; 128 Seiten; 7,90 Euro)

Inhaltsverzeichnis, Leseprobe & Bestelldaten hier beim Verlag:
https://buchshop.bod.de/alle-muessen-den-krieg-verlaestern-erasmus-von-rotterdam-9783758381782

Dr. Eugen Drewermann, geboren 1940, Theologe, Psychoanalytiker und Schriftsteller mit internationaler Reichweite; einer der erfolgreichsten theologischen Autoren; Auszeichnungen für sein Friedensengagement u. a. mit dem Erich-Fromm-Preis, dem Albert-Schweitzer-Preis (2019) und dem Preis der internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft; er nimmt als Pazifist immer wieder Stellung zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen, ohne sich den ‚Vorgaben’ des öffentlichen Militarisierungskurses zu beugen. - Bücher der letzten Jahre u. a.: Von Krieg zu Frieden. = Kapital und Christentum Band 3 (2017); Richtet nicht! Strafrecht und Christentum (drei Bände: 2020-2023); Nur durch Frieden bewahren wir uns selber: Die Bergpredigt als Zeitenwende (2023).

Dieser Artikel ist zuerst im Online-Magazin Overton , 14.07.2024, erschienen.

Fußnoten

Veröffentlicht am

19. Juli 2024

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