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Niemand darf uns befehlen, unseren Nächsten zu töten

Tolstois Besuch bei einem russischen Veteranen im Jahr 1886 und sein kategorisches Nein zum Soldatenhandwerk

Von Tolstoi-Friedensbibliothek

Zar Nikolaus I. Pawlowitsch (1796-1855) aus dem Haus Romanow-Holstein-Gottorp – Sohn von Sophie Dorothee Auguste Luise Prinzessin von Württemberg (1759-1828) und verheiratet mit der Hohenzollern-Prinzessin Friederike Luise Charlotte Wilhelmine von Preußen (1798-1860) – folgte 1825 als Regent seinem ältesten Bruder Zar Alexander I. (1777-1825). Er ließ die im Zuge des Herrscherwechsels aufbegehrenden Dekabristen hinrichten oder verbannen. Leo Tolstoi hat 1886 einen sehr betagten Veteranen aus der bedrückenden Zeit dieses Herrschers aufgesucht und darüber in einem Aufsatz gegen das Mordhandwerk des Militärs berichtet. Die nachfolgende Übersetzung (Zürich 1895) ist entnommen einem neuen Band der Tolstoi-Friedensbibliothek, an deren Aufbau das Lebenshaus Schwäbische Alb als Projektpartner beteiligt ist:

Leo N. Tolstoi: Die Dekabristen. Romanfragment, nebst weiteren Texten über Soldaten und einer Darstellung zu Tolstois Militärzeit von Pawel Birjukov. (= Tolstoi-Friedensbibliothek: Reihe C, Band 4). www.tolstoi-friedensbibliothek.de 2024.

Inzwischen ist von dieser Ausgabe auch eine preiswerte Buchversion erschienen:
https://buchshop.bod.de/die-dekabristen-leo-n-tolstoi-9783759766922

"Nikolaj Palkin"

Tolstois Aufsatz von 1886 – Übersetzung des Züricher Verlags "Russische Zustände"

Wir übernachteten bei einem [95]jährigen Soldaten, welcher unter Alexander I. und Nicolaus I. gedient hatte.

"Was? Willst Du sterben?"

"Sterben? Wie gern möchte ich das! Früher fürchtete ich den Tod und jetzt ist mein einziges Gebet: Gott möge mir verzeihen und mich das heilige Abendmahl empfangen lassen. Denn ich habe viel Sünden!"

"Was hast Du denn verschuldet, was sind es für Sünden?"

"Was für Sünden? Habe ich doch unter Nicolaus gedient, damals hatten wir einen anderen Dienst, als jetzt! Was war damals? O weh!!! Wenn ich daran denke, schaudert mir. Ich leistete auch noch Alexander I. den Eid. Jener Alexander wurde von den Soldaten als gnädiger Herrscher gelobt."

Ich musste an die letzten Zeiten Alexanders denken, als man aus 100 Leuten 20 zu Tode prügelte. Was ist also Nicolaus gewesen, wenn man Alexander im Vergleich mit ihm als gnädig rühmte!

"Ja, mir war es beschieden, unter Nicolaus zu dienen", sagte der Alte, wurde gleich lebhaft und fing zu erzählen an.

"Wie war es zu jenen Zeiten ? Wegen 50 Hiebe wurden Einem nicht einmal die Hosen heruntergezogen! 150, 200, 300 … wurden aufgezählt, zu Tode wurden die Leute geprügelt ! Mit Stöcken aber, – es verging keine Woche, wo man nicht einen oder zwei Leute aus dem Regimente zu Tode haute. Heute weiss man ja gar nicht mehr, was ein Stock ist, damals aber war es in aller Munde: Palka ! Palka ! (Stock, Stock)!

"Die Soldaten bei uns nannten den Nicolaus einfach P a l k i n (Stockheld). Anstatt Nicolaus Pawlowitsch sagten sie Nicolaus Palkin. So erhielt er denn diesen Spitznamen."

"Ja wenn ich zurückdenke an jene Zeit," fuhr der Alte fort, "– ein Menschenalter habe ich verlebt, muss sterben, – wenn ich an all’ die Greuel denke, wird mir bang.

Ich habe viel Sünden auf meine arme Seele geladen! So brachte es die Subordination mit sich. Wenn Dir so 150 aufgezählt werden für das Vergehen eines Soldaten (der Alte war Unteroffizier und Feldwebel gewesen), so lässt Du dem Soldaten dafür 200 verabreichen. Die Wunden heilen Dir deswegen nicht, Du aber quälst ihn, – das sind meine Sünden.

Die Unteroffiziere schlugen die jungen Soldaten tot. Mit der Faust, mit dem Gewehrkolben, wohin nötig wurde zugeschlagen, auf den Kopf, oder die Brust, so dass er starb. Eine Untersuchung wurde nie eingeleitet. Die Vorgesetzten notierten dann einfach: ,er starb durch Gottes unabänderlichen Beschluss‘ – und damit war die Sache erledigt! Damals habe ich das Alles nicht verstanden! Man dachte nur an sich. Jetzt aber wälze ich mich auf dem Ofen herum, kann nachts nicht schlafen, immer denke ich zurück und die schreckliche Vergangenheit zieht an mir vorüber.

Es ist noch gut, wenn ich Zeit finden werde, das heilige Abendmahl zu empfangen, wie es einem Christen geziemt und Ablass zu erhalten, denn sonst graut es mir! Wenn ich daran denke, was ich Alles gelitten habe und was man von mir zu leiden hatte, so braucht man keine Hölle: Das ist schlimmer als alle Höllenqualen."

Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was für Bilder dem Greise in seiner Einsamkeit jetzt aus der Erinnerung aufsteigen mussten, diesem sterbenden Manne, und mir wurde unheimlich zu Mute. Ich dachte an alle Schrecken der damaligen Zeit, ausser den Stöcken, an welchen er teilgenommen haben musste: an das Spiessrutenlaufen bis zum Tode, an das Füsilieren, das Morden und Plündern der Städte während des Krieges (der Alte hatte am Polnischen Kriege teilgenommen). Ich begann, ihn darüber ausführlich auszufragen. Ich frug ihn über das Spiessrutenlaufen.

Er erzählte mir ausführlich über diese grausame Züchtigung: Der arme Delinquent wird an ein paar Gewehre festgebunden, dann zwischen zwei lange Reihen Soldaten gezerrt, welche alle mit Spiessruten versehen sind und tüchtig drauflosschlagen müssen. Hinter den beiden Reihen gehen die Offiziere auf und ab und schreien: "Schlage zu, dass es mehr schmerzt!" Hier konnte es sich der Alte nicht versagen, nicht ohne Vergnügen den Ton eines Vorgesetzten anzuschlagen.

Ohne jede Reue erzählte er mir alle Einzelheiten in einem Tone, als ob es sich um das Schlachten und Zerlegen von Ochsen handle. Er erzählte mir, wie die Unglücklichen zwischen den Reihen hin- und hergeführt werden, wie der zu Tode gequälte sich hinschleppt und endlich auf die Bajonette fällt; wie anfänglich die blutigen Schwielen hervortreten, wie dieselben sich dann kreuzen, allmählich ineinanderfliessen, aufquellen und das Blut hervorspritzt, wie die Fetzen vom blutigen Leibe herunterfliegen, wie die Knochen entblösst werden, wie der Unglückliche anfänglich noch schreit, wie er dann bei jedem Schritt und Schlag nur noch dumpf stöhnt und endlich unfähig ist, einen Laut von sich zu geben; wie der beigeordnete Arzt herbeikommt, den Puls fühlt, besichtigt und dann entscheidet, ob der Unglückliche noch weiter geschlagen werden kann, ohne getötet zu werden, oder ob die Strafe erst dann fortgesetzt werden darf, wenn die Wunden zugeheilt und der Misshandelte genesen ist, damit man ihm dann die von jenen vertierten Menschen, mit Palkin an der Spitze, zugedachten Prügel in der noch fehlenden Zahl verabreichen könne.

Der Arzt benützt seine Kenntnisse dazu, um den Verurteilten nicht eher sterben zu lassen, bis er alle die Qualen durchmache, welche sein Körper auszuhalten vermag. Der Unglückliche wird also, wenn er nicht mehr gehen kann, mit dem Gesichte nach unten auf einen Mantel gelegt und mit einem solchen blutigen, über den ganzen Rücken laufenden Kissen in das Spital zum Kurieren gebracht, um ihm dann, wenn er genesen ist, jenes eine oder paar Tausend Stockhiebe zu verabreichen, welche er das erste Mal nicht vollzählig erhalten und ertragen konnte.

Er erzählte, wie sie den Tod herbeisehnen und man sie doch nicht auf der Stelle töten will, sondern sie heilt, und zum zweiten, manchmal zum dritten Mal schlägt. Und der Unglückliche lebt und wälzt sich im Spital auf seinem Lager in der bangen Erwartung neuer Qualen, welche ihm endlich die Erlösung durch den Tod bringen. Und er wird zwei, dreimal kuriert und dann schon endgültig zu Tode geprügelt.

Und dies alles, weil der Schuldige fahnenflüchtig wird oder genug Mut, Verwegenheit und Selbstverleugnung besitzt, um für seine Kameraden Klage zu erheben über schlechte Kost und über das Bestehlen der Soldaten durch ihre Vorgesetzten.

Dies Alles erzählte er mir. Als ich ihn bewegen wollte, all’ den Greuel zu bereuen, war er anfänglich erstaunt, dann entsetzte er sich und sagte: "Nein, was ist denn das, es geschieht alles nach dem Gesetz! Ist das etwa meine Schuld? Es war Beschluss des Gerichtes und Gesetzes!"

Dieselbe Ruhe und Mangel an Reue zeigte er auch, als er der Kriegsgreuel gedachte, an welchen er teilgenommen und welcher er viele in der Türkei und in Polen mitangesehen hatte.

Er erzählte von getöteten Kindern, von den Gefangenen, die des Hungers und vor Kälte sterben mussten, von der Ermordung eines polnischen Knaben, welcher sich an einem Baume versteckt hatte, mit dem Bajonett. Und als ich frag, ob ihn das Gewissen wegen all’ dieser Greuel nicht plage, war er ganz erstaunt und konnte meine Frage gar nicht begreifen. "Das ist Krieg, das ist Gesetz; für Kaiser und Vaterland." Diese Thaten hielt er nicht nur für nicht schlecht, sondern noch für ehrenhaft und tugendhaft, hoffte durch sie Vergebung für seine Sünden zu bekommen.

Ihn peinigten blos seine persönlichen Handlungen, nur der Gedanke, dass er selbst als Vorgesetzter die Untergebenen gestraft und gezüchtigt hatte. Die Erinnerung an jene Ungerechtigkeiten, die er eigenmächtig Anderen zufügte, quälen ihn. Aber er kennt einen Weg, um dafür Vergebung zu erhalten – das ist das Abendmahl, welches er noch vor seinem Tode zu empfangen hofft und worum er die Nichte gebeten hat; sie verspricht es, die Wichtigkeit dieser Sache begreifend, und der Alte ist ruhig.

Dass er verwüstete, ganz unschuldige Kinder und Frauen umbrachte, dass er selber beim Spiessruthenlaufen Leute geschunden hat, sie dann in das Spital schleppte und wieder zum Hinschlachten zurückführte, – dies alles quält ihn nicht: als ob es nicht seine eigene That, sondern diejenige eines Andern war.

Was für Höllenqualen müsste wohl der Alte ausstehen, wenn er das verstände, was jetzt, wo er an der Todesschwelle steht, für ihn so klar sein sollte, – dass es am Sterbebett keinen Vermittler zwischen ihm, seinem Gewissen und zwischen Gott giebt; dass es auch in jenen Tagen keinen Vermittler gab, als er auf Geheiss Anderer seine Mitmenschen marterte und tötete.

Was müsste er empfinden, wenn er jetzt verstände, dass es nichts giebt, was das Böse entschuldigen kann, welches er seinen Mitmenschen wissentlich zugefügt hat, als es doch in seiner Macht lag, all’ dies Leid zu verhindern. Wenn er verstünde, dass es ein ewiges Gesetz giebt, das er immer kannte und durchaus kennen musste, und das da lautet: liebe und erbarme dich deines Nächsten; dass aber das, was er jetzt Gesetz nennt, ein gottloser, frecher Betrug war, welchen er nicht hätte anerkennen sollen.

Schrecklich ist es, daran zu denken, was er in den schlaflosen Nächten auf seinem Ofen empfinden müsste, wie gross seine Verzweiflung sein würde, wenn er erfassen könnte, dass, als es in seiner Macht lag, den Menschen Gutes und Böses zu thun, er doch nur Böses that; – daran, dass, wenn er einmal begriffen hätte, was Gut und Böse ist, es ihm nur übrig bliebe, sich unnütz zu quälen und zu bereuen. Seine Qualen würden grässlich sein.

Aber warum sollte man ihn denn quälen wollen? Warum das Gewissen eines sterbenden Greises peinigen? Besser, es beruhigen! Warum das Volk aufregen, daran erinnern, was schon vorüber ist?

Vorüber? Was ist vorüber? Kann denn eine böse Krankheit nur deshalb vergehen, weil wir sagen, sie ist nicht mehr vorhanden? Sie vergeht nicht, niemals wird und kann sie verschwinden, bis wir uns nicht krank bekennen. Um eine Krankheit zu heilen, muss man sie zuerst als vorhanden anerkennen ! Das aber thun wir jetzt nicht. Im Gegenteil, wir bemühen uns nach Kräften, sie nicht zu sehen und nicht zu nennen.

Und die Krankheit schwindet nicht, sie wird nur modifiziert und frisst sich immer tiefer in unsern Körper, in unser Blut und unsere Knochen ein.

Worin besteht nun diese Krankheit? Sie besteht darin, dass die als gute und sanfte geborenen Menschen, die Menschen, welche von der christlichen Wahrheit erleuchtet werden und mit Liebe und Erbarmen in ihren Herzen ausgestattet sind, – dass diese Menschen die schrecklichsten Greuelthaten an einander verüben, ohne zu wissen, wofür und wozu.

Unsere guten, sanften, von der Lehre Christi durchdrungenen Russen, welche in tiefster Seele bereuen, wenn sie jemand durch Worte beleidigt, mit dem Armen ihr letztes Stückchen Brod nicht geteilt, oder die Eingekerkerten nicht bemitleidet haben, – diese Leute verbringen die schönsten Lebensjahre mit dem Totschlagen und Quälen ihrer Nächsten; und sie bereuen nicht einmal diese Thaten, sondern halten dieselben dazu noch für gottgefällig, oder doch wenigstens für eben so erforderlich wie Speise und Trank.

Ist dies keine schreckliche Krankheit? Ist es nicht Pflicht eines Jeden, zur Heilung dieser Krankheit nach Kräften mitzuwirken, vor allen Dingen aber auf sie hinzuweisen, sie anzuerkennen und beim rechten Namen zu nennen.

Sein Leben lang hat der alte Soldat Andere gequält und hingeschlachtet. Warum denn solche Erinnerungen wachrufen? fraget Ihr. Der Alte hält sich ja für unschuldig, und die furchtbaren Thaten, – die Stockprügel, das Spiessruthenlaufen und andere sind vorüber; warum nun ans Alte erinnern: dies alles ist ja vorbei.

Nicolaus Palkin ist ja abgethan. Weshalb seiner gedenken ? Nur ein alter Soldat hat ja sich seiner vor dem Tode erinnert. Weshalb das Volk damit erregen ?

Aber eben so sprach man unter Nikolaus I. über Alexander I. So urteilte man unter Alexander I. über Pauls I. Thaten. So dachte man zur Zeit Pauls über Katharina II., alle ihre Ausschweifungen. und die Tollheiten ihrer Buhlen. Und ganz so sprach man unter Katharina über Peter I. u.s.f. u.s.f. Warum daran denken ?

Weshalb daran denken ? Wenn ich von einer bösen oder gefährlichen, schwer zu heilenden Krankheit befallen war, und von ihr doch geheilt worden bin, so werde ich stets mit Vergnügen, daran denken.

Nur dann werde ich nicht daran denken wollen, wenn ich immer kränker und kränker werde, und mich selbst täuschen will. Und weil wir wohl wissen, dass unser Zeitalter am gleichen Übel leidet wie die Vergangenheit, wollen wir nicht daran denken. Weshalb dem Alten weh thun! Wozu das Volk reizen! Stockschläge, Spiessruthen – alle diese Dinge sind ja vorbei.

Sind sie wirklich vorüber? Nein, sie haben nur eine andere Gestalt angenommen. In allen vergangenen Zeiten geschahen Dinge, an welche wir nicht nur mit Grauen, sondern auch mit Unwillen zurückdenken. Wir lesen die Beschreibungen der Exekutionen, der Folterkammern, des Verbrennens wegen Ketzerei, der Verbannungen nach Militärkolonien, der Prügelstrafen und des Ruthenlaufens, und wir entsetzen uns nicht nur über die Grausamkeiten jener Leute, sondern können uns auch den Seelenzustand jener Menschen nicht vorstellen, die dies thun. Was ging im Innern eines Menschen vor, welcher vom Lager aufstand, sich wusch, sein Bojarenkleid anzog, sein Gebet verrichtete und dann zur Folterbank ging, um den Verurteilten die Glieder zu verrenken und Frauen und Kinder mit der Knute zu prügeln; und regelmässig alle Tage 5 Stunden bei solch’ einer Beschäftigung verbrachte, wie jetzt ein Beamter im Senat; dann zu seiner Familie zurückkehrte, ruhig sein Mahl einnahm und darauf in der Heiligen Schrift las? Wie sah es im Innern jener Regiments- und Kompagniechefs aus? (Ich kannte Einen, welcher am Abend mit seiner Tochter, einem schönen Mädchen, die Mazurka tanzte und dann den Ball frühzeitig verlies, um für den nächsten Morgen die Vorkehrungen für das Ruthenlaufen eines fahnenflüchtigen Soldaten – Tartaren – zu treffen, diesen Mann zu Tode marterte und dann zu seiner Familie zum Mittagessen heimkehrte. [Vgl. Tolstois Novelle "Nach dem Ball"])

Das war alles zu Peters, zu Katharina’s, zu Alexanders und zu Nikolaus Zeiten. Es giebt kein Zeitalter, während welchem nicht solche Greuelthaten vollzogen wurden, welche wir jetzt lesen und nicht begreifen können. Wir begreifen nicht, wie jene Menschen alle Greuel, die sie vollbrachten, nicht sehen konnten, wie sie, wenn schon nicht die bestiale Unmenschlichkeit, so doch die volle Sinnlosigkeit all’ jener Greuelthaten nicht einsehen konnten.

Zu allen Zeiten war dies so! Ist unsere Zeit denn wirklich so besonders glücklich, dass es jetzt keine solche entsetzlichen Thaten mehr giebt, welche unsren Nachkommen ebenso unverständlich erscheinen werden? Nein – auch jetzt geschehen solche Greuel, wir sehen sie nur nicht, ebenso, wie unsre Vorfahren die Schrecknisse ihrer Zeit nicht bemerkt haben.

Uns ist jetzt nicht nur die Grausamkeit, sondern auch die Sinnlosigkeit des Verbrennens von Ketzern und der zum Zwecke der Ergründung der Wahrheit ausgeübten Gerichtsfolter klar. Ein Kind sieht diese Sinnlosigkeit ein! Aber die Menschen jener Zeit sahen sie nicht. Kluge, gelehrte Leute behaupteten, dass die Folter für das Leben der Menschen ein unentbehrliches Ding sei, dass man ohne sie nicht auskomme, wie schwer es auch sei. Der gleichen Meinung war man über die Prügelstrafe und die Sklaverei. Die Zeiten sind vorüber und wir können uns den Zustand solcher Menschen nicht denken, welche so verblendet waren. Aber das war ja zu allen Zeiten und deshalb muss es auch jetzt so sein und wir müssen ebenso aufgeklärt über unsre Greuel sein.

Wo findet man jetzt noch Foltern, Sklaverei, Prügelstrafe? Es scheint uns, dass dieselben nicht mehr existiren, dass Alles dies früher war. jetzt aber vorbei sei. Wir täuschen uns, weil wir das Alte nicht verstehen wollen und uns sorgfältig bemühen, es nicht zu beachten.

Wenn wir aber in die Vergangenheit zurückblicken, so enthüllt sich uns auch unsre gegenwärtige Lage und die Ursachen derselben. Wenn wir die Scheiterhaufen, die Brandmarkungen, die Foltern, die Blutgerüste, das Anwerben von Rekruten beim richtigen Namen nennen, so werden wir auch die richtige Bezeichnung für die Gefängnisse, für die Kerker, für die Kriege mit allgemeiner Wehrpflicht und für die Gensdarmen finden. Wenn wir die Vergangenheit nicht vergessen und Alles aufmerksam betrachten, was früher geschah, so werden wir auch sehen und richtig erfassen, was jetzt geschieht.

Wenn es uns selbstverständlich erscheint, dass es unsinnig und grausam ist, die Menschen auf dem Schaffot zu töten oder die Wahrheit durch Folterqualen zu erfahren, so wird es uns auch klar, dass es nicht minder, wenn noch nicht mehr grausam und unsinnig ist, die Menschen zu hängen oder einzeln in die Gefängniszellen zu sperren, was ebenso oder noch schlimmer ist als der Tod, – und die Wahrheit durch bezahlte Advokaten und Staatsanwälte zu erfahren.

Wenn es uns klar wird, dass es unsinnig und grausam ist, einen Verirrten zu töten, so werden wir verstehen, dass es noch unsinniger ist, einen solchen Menschen in einen Kerker (zusammen mit Andern) zu stecken, um ihn endgültig zu demoralisieren; wenn es uns klar wird, dass es grausam und sinnlos ist, die Bauern einzufangen, in die Uniform zu stecken und, gleich dem Vieh, zu brandmarken, so ist es aber ebenso sinnlos und grausam, einen jeden 21jährigen Mann zum Militärdienst zu zwingen. Wenn es uns klar wird, wie einfältig und grausam die Ursache ist, so werden wir begreifen, wie absurd die Garde und Ochrana [Geheimpolizei des Zaren] sind.

Wenn wir unsere Augen öffnen und nicht mehr ausrufen: "Wozu der Vergangenheit gedenken?", so werden wir erkennen, dass auch in unsrer Zeit solche Schrecken, nur in andrer Form, existieren.

Wir sagen, das ist alles vorbei, es giebt keine Foltern, keine unzüchtigen Weiber – gleich den Katharina’s, mit ihren allmächtigen Buhlen, es giebt keine Sklaven, kein Zutodeprügeln u.s.w. Aber das scheint uns ja nur so ! 300.000 zu Kerker und Strafbataillonen verurteilte, an Leib und Seele gebrochene Menschen sterben, eingesperrt in enge stinkende Räume, eines langsamen Todes. Ihre Frauen und Kinder sind dem Hungertode preisgegeben, diese Männer aber hält man eingekerkert in den Brutstätten der Unzucht, in Gefängnissen und Strafbataillonen, und nur den Aufsehern, den allmächtigen Herrn dieser Sklaven, ist diese grausame, sinnlose Einkerkerung zu etwas nötig.

Viele Tausend Menschen mit gefährlichen Ideen verbreiten diese Ideen, infolge ihres Exils, nach den entfernten Enden des Zarenreiches, werden wahnsinnig und begehen Selbstmord. Tausende sitzen in den Festungen und werden entweder im Geheimen von den Gefängnisdirektoren ermordet oder durch Einzelhaft zum Wahnsinn gebracht. Millionen von Menschen verkümmern physisch und geistig als Sklaven der Fabrikanten. Hunderttausend junger Leute werden alle Jahre im Herbst den Angehörigen, den jungen Frauen entzogen, zum Mord abgerichtet und systematisch demoralisiert.

Der russische Kaiser kann keine Reise antreten, ohne von einer sichtbaren Kette von Hunderttausenden Soldaten beschützt zu werden, welche an der Fahrstrasse, 90 Schritte von einander, aufgestellt sind. Und ausserdem folgt ihm auf Schritt und Tritt eine Kette geheimer Beschützer.

Ein König erhebt Steuern und errichtet einen Turm, mit einem Teiche auf der Zinne desselben; und auf dem mit blauer Farbe gefärbten Teiche und mit einer Maschine, die einen Sturm darstellt, vergnügt er sich im Kahn zu fahren. Das Volk stirbt aber in den Fabriken in Irland, Frankreich, Belgien.

Man braucht keinen besonderen Scharfblick zu besitzen, um zu erkennen, dass in unserer Zeit dasselbe geschieht wie früher. Unsere Zeit ist ebenso erfüllt von Greueln, Foltern, welche unseren Nachkommen ebenso grausam und unverständlich erscheinen werden. Es ist dieselbe Krankheit, obgleich Diejenigen, welche sie ausnützen, daran nicht leiden.

So mögen sie es doch thun, 100, 1000 mal schlimmer. Mögen sie Türme, Zelte errichten, Bälle veranstalten, das Volk ausrauben, möge doch Palkin das Volk zu Tode prügeln, Hunderte in den Gefängnissen im Geheimen hinrichten, aber selbst sollten sie es thun, nicht aber das Volk demoralisieren, nicht betrügen, es nicht zwingen, daran teilzunehmen, wie den alten Soldaten.

Diese schreckliche Krankheit liegt im Betrug: er besteht darin, dass es für den Menschen noch etwas Heiligeres und ein höheres Gesetz geben kann, als die Heiligkeit und das Gesetz der Nächstenliebe; – im Betrug, der es verbirgt, dass ein Mensch, um die Forderungen der Leute zu erfüllen, vieles thun kann, nur eine Art Handlungen ausgenommen, die er als Mensch niemals ausüben soll: er darf sich durch Niemanden [sic] Befehl bewegen lassen, gegen Gottes Gebot zu handeln, seine Nächsten zu tödten und zu quälen.

Vor 1800 Jahren hat man auf die Frage der Pharisäer, ob dem Kaiser Steuern zu zahlen seien, geantwortet: Dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gott gehört.

Wenn die Menschen irgend einen Glauben hätten und nur irgendwelche Pflichten gegen Gott anerkennen wollten, so würden sie vor allem der Worte Gottes gedenken, die da lauten: "Du sollst nicht töten"; "Was Du nicht willst, dass man Dir thue, das füge auch keinem Andern zu"; "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst"; sowie noch, dass Gott mit unauslöschbaren Zeichen im Herzen jedes Menschen die Liebe und das Erbarmen zum Nächsten hineingeschrieben hat, den man nicht peinigen und töten solle. Dann würden sie die Worte: "Gott was Gott, und dem Kaiser, was dem Kaiser gebühret" klar und genau verstehen. "Dem Kaiser, oder sonst Jemand – Alles, was er will," würde der Gläubige sagen, "nicht aber das, was wider Gottes Gebot ist."

Braucht der Kaiser mein Geld, so nehme er es, ebenso mein Haus und Hof, meine Arbeit, mein Weib und Kind, mein Leben – Alles soll er haben. Alles das gehört nicht Gott. Fordert der Kaiser aber von mir, dass ich die Spiessrute über dem Rücken meines Nächsten erhebe und fallen lasse, – so gilt hier Gottes Gebot. Meine Thaten sind mein Leben, sie sind etwas, worüber ich Gott Rechenschaft abgeben muss; und was mir Gott verboten hat zu thun, – das kann ich dem Kaiser nicht abtreten. Ich kann keinen Menschen zusammenbinden, einkerkern, hetzen oder töten: Alles das ist mein Leben, es gehört dem Allmächtigen, und nur ihm kann ich es geben.

Die Worte "Gott, was Gott gebühret" bedeuten aber für uns nur, dass wir Gott Kopeken-Kerzen opfern, oder Gebete – überhaupt Alles, was Niemand, geschweige denn Gott, gebrauchen kann; Alles andre aber, das ganze Leben, die ganze Heiligkeit unsrer Seele, welche Gott gehört, haben wir dem Kaiser, d. h. (das Wort "Kaiser" – Kessarʼ – so verstanden, wie bei den Juden) einem Dir fremden, verhassten Menschen geopfert. Das ist ja schrecklich. Besinnt Euch, Ihr Menschen!

Projektseite der Tolstoi-Friedensbibliothek mit Übersicht und Informationen über die gesamte Reihe (einschließlich der kostenfrei abrufbaren Digitalversionen): www.tolstoi-friedensbibliothek.de

Veröffentlicht am

29. Juli 2024

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