Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Rudolf Goldscheid (1870-1931): Über Menschenökonomie, Weltkrieg und Weltfrieden

Der zweite Band zum Projekt "Pazifisten & Antimilitaristen aus jüdischen Familien" - vorgelegt in Kooperation mit dem Lebenshaus Schwäbische Alb e.V.

Von Peter Bürger

Der zweite Band im Regal "Pazifisten & Antimilitaristen aus jüdischen Familien" enthält ausgewählte "Friedensschriften 1912 - 1926" des Österreichers Rudolf Goldscheid. Eine digitale Erstausgabe ist beim Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. erschienen, das dieses neue Editionsprojekt als Kooperationspartner mitträgt. Inzwischen liegt auch die preiswerte Buchfassung vor:

Rudolf Goldscheid: Menschenökonomie, Weltkrieg und Weltfrieden.
Ausgewählte Schriften 1912 - 1926.
(= edition pace | Regal: Pazifisten & Antimilitaristen aus jüdischen Familien 2). Herausgegeben von Peter Bürger - in Kooperation mit dem Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. Norderstedt: BoD 2024.
(ISBN: 978-3-7597-7885-7; Paperback; 268 Seiten; 11,90 Euro).

Inhaltsverzeichnis und Leseprobe auf der Verlagsplattform (überall im nahen Buchhandel bestellbar): https://buchshop.bod.de/menschenoekonomie-weltkrieg-und-weltfrieden-rudolf-goldscheid-9783759778857

Rudolf Goldscheid (1870-1931) zählte zu den Pionieren der Soziologie im deutschsprachigen Raum und votierte für einen demokratischen - freiheitlichen - Sozialismus. Für diesen Vertreter eines wissenschaftlichen Pazifismus waren Vernunft und Menschlichkeit keine Gegensätze, sondern notwendige Entsprechungen.

Goldscheid wirkte schon vor dem Ersten Weltkrieg für die Friedensbewegung, in der er zwischen unterschiedlichen "Fraktionen" zu vermitteln wusste. Er beteiligte sich "im Jahr 1915 an der Initiative zur Gründung einer Zentralorganisation und eines Publikationsorgans für einen dauerhaften Frieden" und gehörte 1921-1927 dem Vorstand der "Deutschen Liga für Menschenrechte" an. Er übernahm außerdem 1922-1925 in der Nachfolge von Alfred Hermann Fried (1864-1921) die Herausgeberschaft der "Friedens-Warte", der Zeitschrift des organisierten Pazifismus.

Die ersten fünf friedensbewegten Texte in unserer Auswahl - mehrheitlich zuerst als selbstständige Veröffentlichungen erschienen - stammen aus dem Zeitraum 1912 bis 1919: "Friedensbewegung und Menschenökonomie" (1912); "Krieg und Kultur" (1912); "Das Verhältnis der äußern Politik zur innern" (Juni/September 1914); "Deutschlands größte Gefahr" (Mai 1915); "Humanes Ehrgefühl und kulturelle Bedeutung des Internationalismus" (1919).

Aus den insgesamt fünfzehn Texten, die Goldscheid nach Ende des Ersten Weltkrieges in der "Friedens-Warte" veröffentlicht hat, wird in unserer Sammlung immerhin eine Auswahl von sechs Texten dargeboten: "Weltreaktion und Pazifismus" (1923); "Internationalismus und Menschlichkeit" (1923); "Der Glaube an die Gewalt" (1923); "Die Verfolgung Quiddes wegen Landesverrat" (1924); "Das Jubiläum des Weltkrieges und die Parole: Nie wieder Krieg!" (1924); "Der Ausbau des Paktes von Locarno und der Zusammenschluss Europas" (1926). Der zuletzt aufgeführte Text vermittelt uns Goldscheid als einen Vordenker der europäischen Einigung, doch anders als noch 1915 votiert er jetzt 1926 für friedliche Zusammenarbeit, Güteraustausch und ‚innigsten Wirtschaftsverkehr mit Rußland’.

Eine Wirtschaft, die tötet

Es besteht - nach wie vor - "eine Wirtschaft, die tötet" (Papst Franziskus). Kapitalismus und Militarismus schreiten, ohne mit der Wimper zu zucken, über die Leichenberge von Hunderttausenden ihrer Opfer hinweg: das Lebensglück der Menschen ist ihnen ‚scheißegal’; willige Politiker präsentieren den militärisch-industriellen Komplex, der Leben vernichtet statt zu fördern, noch als Dienst an der Menschheit …

Scheinbar ohne jede Empathie führt nun der Sozialist und Pazifist Rudolf Goldscheid im Text "Friedensbewegung und Menschenökonomie" (1912) gegen die Maschine des Menschenverschleißes seinen Ansatz der "Menschenökonomie" ins Feld (u. a. als Gegenentwurf zur bloßen ‚Warenökonomie’). Die eiskalten Berechnungen und Begrifflichkeiten (‚Menschenmaterial’ usw.) der Wirtschaftswissenschaften kommen ins Spiel.

Gerade so aber - mit ‚Zahlen und Figuren’ als Schlüssel - lässt sich die Frage beantworten, "ob die Friedenspalme oder das Kriegsschwert mehr mit Blut befleckt" ist; denn: "Jede Kanone, jedes Panzerschiff stellt das Äquivalent für eine bestimmte Summe geopferter Menschenleben und unbehobener sozialer Übel dar." - Goldscheid sieht innige "Zusammenhänge zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit"; kostspielig ist am Ende stets die verweigerte Humanität. Gerade auch aus ökonomischer Perspektive bleibt das Programm ‚Krieg’ die ultimative Irrationalität. "Mit dem Konzept der ‚Menschenökonomie’ sollte gezeigt werden, dass Humanität, Solidarität, Mitgefühl etc. keine sittlich-moralischen Zusätze sind, sondern zentrale Erfordernisse für die Erhaltung und Förderung des menschlichen Lebens als des letztendlichen Zieles aller Ökonomie" (Arno Bammé).

Evolution der menschlichen Kultur, aber in welche Richtung?

Auch in der nachfolgenden Schrift "Krieg und Kultur" (1912) werden Irrsinn und Heilsversprechen der Militärreligion thematisiert: "Eine merkwürdige Art, das Leben der Menschen sichern zu wollen, indem man sie in Hunderttausenden zur Schlachtbank führt!" "Im Kriege feiert … die Menschen- und Gütervergeudung die tollsten Orgien. Gegen diese muss sich darum ein Geschlecht, bei dem das ökonomische Denken in das Zentrum des Willens gerückt ist, am stärksten erheben."

Die sich in immer kürzeren Zeiträumen - immer schneller - vollziehende kulturelle Evolution der menschlichen Gattung ist zweifellos zweigesichtig, denn es hat ja "gerade der Fortschritt unserer technischen Kultur die Zerstörungsmöglichkeiten im Kriege ins Unermessliche gesteigert". Schon vordergründig galt für Goldscheid 1912: "Die kulturelle Leistungsfähigkeit eines Volkes kulminiert in unseren Tagen nicht mehr wie ehemals in der Kriegstüchtigkeit". Doch nun müssten wir im Sinne seiner Schriften einen qualifizierten Begriff von ‚Kultur’ ins Spiel bringen, der allein auf die Förderung des Lebens zielt und sich mit dem Destruktiven nicht zusammenreimen lässt. Dann wäre für unser Jahrtausend zu postulieren: Die kulturelle Leistungsfähigkeit eines sozialen Raumes, eines Landes, eines Kontinents oder der gesamten Gattung kulminiert einzig in der überlebenswichtigen Befähigung zum Frieden.

Am allerwenigsten kommt es auf der Grundlage eines denkbar aggressiven Wirtschaftssystems (Kapitalismus) zu entsprechenden geistigen bzw. kulturellen Strukturen der Gewaltfreiheit und Kooperation, die allein der Gattung ein Überleben ermöglichen können. Deshalb wäre es kaum klug, die marxistische Basis-Überbau-Theorie ganz zu den Akten zu legen.

Die Überlegungen Goldscheids bewegen sich aber darüber hinausgehend in Richtung der viel späteren Unesco-Gründungsurkunde: "Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden." Das geistig-seelische Gefüge sozialer Räume - auch das geistig-seelische Gefüge der ‚Weltgesellschaft’ - muss als Wirklichkeit verstanden und in friedenswissenschaftlicher Hinsicht erforscht werden. Kommen vielleicht kulturelle Strategien ins Blickfeld, die der Gattung homo sapiens (und allen Wesen, die unter ihr leiden) einen Ausweg aus dem Verhängnis eröffnen ?

Der Glaube an die Militärgewalt - ein Fall für den Sektenbeauftragten

Goldscheid votiert in seinem Aufsatz "Der Glaube an die Gewalt" (1923) weitsichtig für eine Religionskritik der irrationalen militärischen Heilslehre, welche das ‚seelische Gefüge der Welt’ korrumpiert. Zu entlarven ist der aberwitzige Glaube, "dass Kriege fähig sind, irgend ein menschliches Problem zu lösen". - "Heute heißt es: die ‚Vernunft innerhalb der Grenzen der Gewalt’, wie es ehemals hieß: die ‚Vernunft innerhalb der Grenzen des Wunderglaubens’ … weil wir im Letzten noch ebenso gewaltgläubig sind, wie die Generationen vor uns wundergläubig waren, wie die Naturvölker am Dämonenglauben festhalten. Wir haben den Gewaltglauben intellektuell nicht überwunden, darum kommen wir auch moralisch nicht über die Gewalt hinaus. … Am Gewaltglauben ist das kaiserliche Deutschland zugrunde gegangen, am Gewaltglauben ist der Sozialismus in Sowjetrussland zerbrochen, wie schon vorher genau so der Welteinheitstraum des alten Rom und der Napoleons durch den blinden Glauben an die Gewalt in Nichts zerrann."

Allerdings schätzte der Österreicher den Stand der öffentlichen Aufklärung zu optimistisch ein, als er 1924 in seinem Artikel "Das Jubiläum des Weltkrieges und die Parole: Nie wieder Krieg!" schrieb:

"Der breitesten Massen wie der erlesensten Geister hat sich bereits die Überzeugung bemächtigt, dass wir keines der großen sozialen und ideellen Probleme, deren Bewältigung den eigentlichen Sinn unseres Lebens ausmacht, zu lösen vermögen, solange es uns nicht gelingt, die Kriegsgefahr völlig aus der Welt zu bannen."

Erschütternde Aktualität: Die "Gattungsfrage"

Wer sich bei der Lektüre des neuen Auswahlbandes einen Farbstift zur Seite legt, könnte auf Schritt und Tritt längere Textpassagen oder kurze Aphorismen markieren, die - trotz des Zeitabstandes von einem ganzen Jahrhundert - den Eindruck erwecken, als wären sie passgenau für unsere Tage niedergeschrieben worden.

Der im Horizont der Zivilisationsgeschichte gleichsam erst am gestrigen Tag in Erscheinung getretene Abgrund des modernen - industriellen - Krieges stand Rudolf Goldscheid schon deutlich vor Augen. Dies hat gleichwohl seinen Glauben an ein Fortschreiten des gesamten Menschengeschlechts nicht wirklich zerbrochen (einem ‚Fortschrittsautomatismus’ huldigte Goldscheid nicht).

Uns fällt heute ein ‚Optimismus trotz des Abgrundes’ ungleich schwerer. Wir wissen im dritten Jahrtausend der christlichen Zeitrechnung um noch weitaus größere Schrecken als dieser Autor, dessen Problemanzeigen sich aber nach der Barbarei eines zweiten Weltkrieges mit 70 Millionen Toten, angesichts der Atombombe, im Hinblick auf die totalitären Kriegsszenarien einer ‚Künstlichen Intelligenz’ … keineswegs erledigt, sondern nur unvorstellbar verschärft haben:

"Nichts kurzsichtiger, als zu glauben, in dem Ringen um Vermeidung von Kriegen handle es sich nur um eine politische oder gar lediglich um eine parteipolitische Angelegenheit. Hier stehen wir vielmehr vor der alles Politische weitaus überragenden Grundfrage unserer Gattung überhaupt. Zu so gewaltiger Größe hat die Entwicklung des wissenschaftlichen und organisatorischen Genius die Kriegstechnik entfaltet, dass die Kulturmenschheit sich nur vor Selbstmord zu bewahren vermag, wenn sie dafür sorgt, die selbstgeschaffene Höllenmaschine nicht in Funktion geraten zu lassen. Das sicherste Mittel hierzu ist natürlich ihr systematischer Abbau. Zu diesem schreiten heißt aber, die Friedenstechnik in noch viel vollkommenerer Weise ausbauen wie bisher die Kriegstechnik, heißt also mit glühendstem Eifer die allgemeine pazifistische Wehrpflicht verfechten, sich mit Leib und Seele in den Dienst des allumfassenden Vaterlandes friedlicher Kultur stellen. - Nie wieder Krieg, nie wieder Völkermord, nie wieder planmäßige, bestialisch organisierte Massenschlächterei !" (R. Goldscheid, Friedenswarte 1924)

Das heute für den homo sapiens überlebenswichtige ‚Neue Denken’ ist in der menschlichen Kulturgeschichte mehr als einmal schon vorgedacht worden. Das ‚Rad’ muss mitnichten immer wieder ganz neu erfunden werden. Viel wäre bereits gewonnen, wenn wir in diesem Zusammenhang den von den herrschenden ‚Mächten und Gewalten’ erwünschten kollektiven Gedächtnisverlust durchbrechen könnten. Als wegweisender Pionier der Soziologie im deutschsprachigen Raum ist Rudolf Goldscheid im 21. Jahrhundert schon in Erinnerung gebracht worden. Es ergeht hier die Einladung, ihn vor allem auch als schwergewichtige Stimme eines ‚Pazifismus im Ernstfall der Zivilisation’ wiederzuentdecken.

Veröffentlicht am

26. August 2024

Artikel ausdrucken