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Deutsche Zustände. Europäische Zustände

Von Georg Rammer

"Russlands Angriffskrieg in der Ukraine hat die Lage erschwert" - so kommentiert der Grüne Anton Hofreiter das grottenschlechte Ergebnis seiner Partei bei den Wahlen zum EU-Parlament. Manfred Weber, CSU, fordert die Unterstützung der demokratischen Mitte; Europa müsse aus der Mitte regiert werden. Nach diesen "Analysen" geht das Spitzenpersonal der Parteien an die Arbeit, beschließt weitere Aufrüstung, kungelt die Wiederwahl von der Leyens, sondiert eine mögliche Zusammenarbeit mit den rechtsextremen "Brüdern Italiens" aus, schließt Krankenhäuser und straft alle mit Überwachung, Verbot und Verfolgung, die sich der Staatsräson und den Maßnahmen der Machtelite widersetzen. "Wer rechtsextrem wählt, schwächt die Demokratie", ruft der DGB. Richtig, aber umgekehrt wird auch ein Schuh daraus: Wer die Demokratie schwächt, stärkt Rechtsextreme.

Also, liebe Politikerinnen und Politiker, gestatten Sie uns, dem Volk, einige Fragen und Anmerkungen. Wir stimmen Ihnen ja zu, dass diese Rechtsentwicklung abscheulich und gefährlich ist. Allerdings wäre eine ehrliche Analyse der Ursachen des rechten Aufmarsches hilfreich. Er kommt nämlich nicht über uns wie ein Gewitter. Schon vor vielen Jahren gab es gründliche Untersuchungen zu seinen Hintergründen und Warnungen vor den Folgen. Erinnern Sie sich an die Langzeitstudie "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit", deren Ergebnisse von 2002 bis Ende 2011 in zehn Bänden unter dem Titel "Deutsche Zustände" veröffentlicht wurden? Über einen Zeitraum von eben zehn Jahren wurden Tausende von Menschen befragt und Studienleiter Wilhelm Heitmeyer fasste die wichtigsten Einsichten zusammen. Er konstatierte eine "Demokratieentleerung", die mit Vertrauensverlust und einem Gefühl der Machtlosigkeit einhergeht: "Warnsignale, da die Anfälligkeit für rechtspopulistische Mobilisierungen auffällig ist."

Schauen wir weiter auf die Ergebnisse von Umfragen, die ebenfalls schon Anfang der 2010er Jahre durchgeführt wurden. So deckte ein Report der Friedrich-Ebert-Stiftung 2011 eine tiefe Kluft auf zwischen dem Wesen der Demokratie und dem Ausmaß seiner Umsetzung. Soziale Gerechtigkeit gehört für 67 Prozent der Menschen dazu; dass sie verwirklicht sei, denken aber nur 12 Prozent. Ähnlich schief ist die Relation auch bei den Merkmalen "gleiche Lebenschancen": 54 zu 9 Prozent. Und "Orientierung der Politik an den Wünschen der Bürger": 53 zu 7 Prozent. Die Bürger müssen so informiert werden, dass sie sich beteiligen können, sagen 46 Prozent; umgesetzt sieht das aber nicht einmal jeder Zehnte. Je ärmer die Leute sind, desto häufiger beklagen sie, dass die Demokratie nicht funktioniert: 70 Prozent! Und sie haben Recht. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung hat keinen Einfluss auf politische Entscheidungen, belegen Untersuchungen.

Lassen wir den Stempel "rechts/links" beiseite. Halten wir fest, dass viele Menschen Erfahrungen gemacht haben, die sie als tiefe Kluft zwischen den gefeierten Werten der Demokratie und ihrer Umsetzung in der Realität empfinden. Das schafft nicht nur Vertrauensverlust; viele fühlen sich als Stimmvieh missbraucht, verwertbar als Arbeitskraft und Verbraucher ohne realen Einfluss. Unantastbare Menschenwürde? Hören wir noch einmal, was Heitmeyer dazu geschrieben hat: Wir sollten "der rohen Bürgerlichkeit (…) unsere Aufmerksamkeit widmen, einer Bürgerlichkeit, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und Effizienz orientiert und somit die Gleichwertigkeit von Menschen sowie ihre psychische und physische Integrität antastbar macht und zugleich einen Klassenkampf von oben inszeniert." Zeit, hinzuhören, liebe Politiker!

Sie, die Sie die Regierungskoalitionen der letzten dreißig Jahre gestellt haben, bekämpfen "Rechts" und "Links" und tummeln sich in der "Mitte". Wessen Interessen vertreten Sie da? Könnte es sein, dass Sie den Kontakt zur Mehrheit verloren haben, die Sie dafür angestellt hat, ihre Interessen und Bedürfnisse zu vertreten? Die meisten Menschen wollen Frieden, soziale Sicherheit und einen bescheidenen Wohlstand. Sie wollen als Mensch anerkannt sein und sich nicht ohnmächtig den egoistischen, moralisch verbrämten Bestrebungen von reichen Heuchlern ausgesetzt fühlen. Heitmeyer beschreibt die Mentalität einer Elite, die von der grundgesetzlichen Maxime "Eigentum verpflichtet" nichts wissen will, sich aus der Solidargemeinschaft zurückzieht und versucht, eigene Ziele mit rabiaten Mitteln durchzusetzen.

Aber die Rechtsentwicklung trifft ja nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa - Frankreich, Italien, Österreich, die Niederlande und so weiter; Nazis an der Macht, oder doch kurz davor! Ja, der beschriebene Prozess von Verwertbarkeit, Entsolidarisierung und Demokratieentleerung grassiert in den meisten Staaten und er hat auch einen Namen: neoliberal radikalisierter Kapitalismus. Die Lage ist durch die Kriege noch gefährlicher geworden. Aber auch hierbei scheinen Sie, liebe Politiker, eine sehr selektive Wahrnehmung zu pflegen und uns dabei eine retrograde Amnesie aufzuzwingen. Wollten etwa wir, das Volk, die Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien? Ist unsere Meinung gefragt, ob wir die US-Politik der Weltherrschaft unterstützen wollen? Konnten wir über die Nato-Osterweiterung befinden oder derzeit über die deutschen Kriegsschiffe im Südchinesischen Meer? Nein. Die Leute haben es in Umfragen immer wieder deutlich gesagt: Keine Bundeswehr im Ausland, keine Waffenlieferungen für noch mehr Krieg, verhandelt endlich! Im Deutschlandtrend Juli 2023 forderten gerade mal 14 Prozent der Befragten mehr Waffen für die Ukraine. Als wichtigste Aufgabe des Staates nannten sie stattdessen soziale Gerechtigkeit. Wer will denn deutsche Kriegsbeteiligung, wer will Moskau mit deutschen Raketen beschießen - außer Kiesewetter, Strack-Zimmermann, Hofreiter, Habeck und Co.?

Die imperialen Ambitionen stützen sich nicht auf Mehrheiten. In Verbindung mit der erlebten Verachtung für die Bedürfnisse der Bevölkerung begünstigen sie rechte Parteien und Gruppierungen. Und wenn wir "rechts" charakterisieren als Tendenz, die Gleichwertigkeit von Menschen zu bestreiten, Sozialdarwinismus statt Solidarität zu stärken und nationale Führung anzustreben, dann ist die in Deutschland vorherrschende Politik rechts, obwohl alle Regierungsparteien behaupten, die Mitte zu sein. Der Neoliberalismus ist demokratie- und menschenfeindlich - übrigens auch gegenüber dem kriegszerstörten Land Ukraine: Der US-amerikanische Journalist Ben Norton berichtete schon Mitte 2022, dass der Westen die Nachkriegs-Ukraine mit neoliberaler Schocktherapie ausplündern will. "Westliche Regierungen und Unternehmen trafen sich in der Schweiz, um eine harte neoliberale Wirtschaftspolitik zu planen, die der Nachkriegs-Ukraine aufgezwungen werden soll. Sie forderten, die Arbeitsgesetze zu kürzen, Märkte zu öffnen, Zölle zu senken, Industrien zu deregulieren und staatliche Unternehmen an private Investoren zu verkaufen." In unserem Namen?

Widerstand gegen diese Politik, die die menschlichen Bedürfnisse nicht nur ignoriert, sondern destabilisiert und pervertiert, ist nur von links zu erwarten, nicht von der Mitte. Diese Mitte, der Staat und seine Institutionen, ist schnell bei der Hand, jede Kritik zu canceln, Grundrechte einzuschränken, linke Publikationen zu verbieten oder als verfassungswidrig zu brandmarken. Und während Hunderttausende gegen rechte "Remigrations"-Gelüste unter großem Beifall der Politik auf die Straße gingen, beschloss das Parlament ein "Rückführungsverbesserungsgesetz".

Sie, liebe Politikerinnen und Politiker, betreiben selbst die "verfassungsschutzrelevante Delegitimation des Staates", die der Verfassungsschutz verfolgt. Die Wucht eines Klassenkampfes von oben, den die Eliten inszenieren, die soziale Kälte und die Abwertung schwacher Gruppen zeigen nach Heitmeyer, dass "eine gewaltförmige Desintegration auch in dieser Gesellschaft nicht unwahrscheinlich ist." Es ist höchste Zeit, gegen Verrohung durch Kriegstüchtigkeit und gegen die Zersetzung der gesellschaftlichen Solidarität mit Aufklärung und menschenfreundlichen Aktionen Widerstand zu leisten.

Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 15.16/2024. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

02. September 2024

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