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Frieden als russische Desinformation

Von Georg Rammer

Meinung prägende Blätter agieren als Fanclub der vorherrschenden Politik: Für Stimmung sorgen, die eigene Mannschaft unterstützen, den Gegner niedermachen! Ich blättere in der Tageszeitung. "Fake News vom Kreml": Die von der US-Regierung behauptete russische Desinformationskampagne wird als Tatsache berichtet. "Verfolgter Wahlsieger flieht aus Venezuela": Framing ohne Erwähnung abweichender Berichte oder Hintergründe (Wirtschaftskrieg gegen das Land). Zitiert wird Israels Präsident Netanjahu: "Wir sind von einer mörderischen Ideologie umgeben" – aber kein Wort über ein Massaker der israelischen Armee an Menschen in einer "humanitären Zone". Langer Bericht über den US-Wahlkampf – einseitig Partei ergreifend, ohne Ziele der Kandidaten bezüglich Krieg und Frieden und Weltherrschaft zu erwähnen. Und zahlreiche Berichte über Innenpolitik als parteipolitisches Hickhack.

Auf die Kritik des Autors an der Berichterstattung einer großen Tageszeitung entgegnete ein Redakteur: "Ihren Vorwurf, dass die großen Printmedien selektiv, tendenziös und regierungsnah berichten, kann ich nicht nachvollziehen. Mir zumindest fällt kein nennenswertes Printmedium ein, das nicht eimerweise Kritik über der Ampelkoalition auskippen würde." Natürlich gibt es Kritik, und es gibt lesenswerte Berichte, Interviews und Kommentare. Aber: Die Berichterstattung leidet unter Dogmen, tabuisierten Themen, systematischem Ausblenden von Hintergründen und Zusammenhängen, floskelhaften Bewertungen und Framing. In der Summe wirkt all das manipulativ, als Propaganda. Die zentralen Ideologien der "Machtelite" gelten als sakrosankt: Der Neoliberalismus als Grundlage der Wirtschaft und der Gesellschaft, die US-Hegemonie plus Nato und die Klassengesellschaft, in der große Medien entscheidenden Einfluss beanspruchen – allerdings an der Seite, nicht als Kontrolleure der Macht.

Man wundert sich, dass der Deutschland GmbH der Laden nicht um die Ohren fliegt und die verantwortlichen Politiker nicht mit Schimpf und Schande verjagt werden. Ob man vergeblich auf die Bahn wartet, jahrelang eine bezahlbare Wohnung sucht, ob ein Klinikaufenthalt zur Tortur wird oder die Rentenauskunft eine zu erwartende Rente unter der Armutsgrenze anzeigt – von den Zukunftsaussichten der Kinder ganz zu schweigen: Resignation und Angst, wohin man blickt. All die Belastungen existieren schon lange: Eine Bundesregierung nach der anderen hat sie sehenden Auges geschaffen. An gravierenden ideologischen Fehlentscheidungen wurde nichts geändert, im Gegenteil. Erfolgreiche Firmen lernen aus Fehlern, suchen nach Verbesserung, um Effizienz, Motivation und Zufriedenheit der Betroffenen zu erhöhen. Nicht so die deutsche Machtelite.

Gut, die deutsche Bevölkerung neigt nicht zu lautstarkem Protest oder gar zur Revolution. Immerhin zeigen aber Dutzende von Umfragen wachsende Unzufriedenheit, Sorgen und Ablehnung: "Studie: Jugend so pessimistisch wie nie!" "Vertrauen in Demokratie nimmt rapide ab!" "Wenig Vertrauen in deutsche Medien!" Insgesamt schwindet das Vertrauen in den Staat, in die Politik und deren Repräsentanten, in die Medien. Die Wahlen in Sachsen und Thüringen haben der Ampelkoalition eine deutliche Botschaft übermittelt: Wir gehn euch doch am Arsch vorbei – ihr uns auch!

Ganz oben rangiert in allen Umfragen die Sorge wegen der wachsenden Kriegsgefahr. Laut der Studie "Jugend in Deutschland 2024" bekunden 60 Prozent der Jugendlichen ihre Sorge vor "Krieg in Europa und Nahost". Und wollen etwa die Menschen Krieg bis zum Sieg über Russland – wie die Politiker der Koalition und der CDU/CSU-Opposition? Nein! Sie sagen: Verhandelt! Waffenlieferungen sind nicht die Lösung! Nach einer repräsentativen INSA-Umfrage sind 68 Prozent für Friedensverhandlungen und 65 Prozent für Waffenstillstand. Eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung erwartet eine andere, eine friedensorientierte Politik – aber die Regierung und die CDU/CSU-Opposition stellen sich taub. Vergeblich sucht man in den Leitmedien eine Resonanz auf diese Erwartungen, die den Zielen der Regierungspolitik diametral entgegenstehen. Am selben Tag, als die Ergebnisse der INSA-Umfrage von der Zeitschrift Emma veröffentlicht wurden, baute die Tagesschau eine Brandmauer – ohne die Ergebnisse zu erwähnen: "Forderungen nach Friedensverhandlungen: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit". Der Beitrag schließt mit der Forderung nach Waffenlieferungen.

Ohne das Parlament beschließt die Regierung, US-Waffensysteme in Deutschland zu stationieren, die weit nach Russland hineinreichen. Diese entscheidende Eskalation der Spannungen mit Russland wird von der Hälfte der Bevölkerung abgelehnt, in östlichen Bundesländern zu zwei Drittel. Aber die Tagesschau (hier stellvertretend für Leitmedien) beschwichtigt: Es gelte, eine militärische Fähigkeitslücke zu überwinden und für einen besseren Schutz der Nato-Verbündeten zu sorgen. Das lässt man sich dann von einer Expertin der regierungsnahen "Stiftung Wissenschaft und Politik" bestätigen. In einem aktuellen Interview erklärt die US-Diplomatin Victoria Nuland ("Fuck the EU") offen die Gründe für den Abbruch der Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine im April 2022. Es seien "die Briten und wir" gewesen, die Kiew empfohlen hätten, die Verhandlungen von Istanbul platzen zu lassen. Diese historisch bedeutende Nachricht findet man fast nur in alternativen Medien.
Der Vertrauensverlust in Staat und Parteien, in Demokratie und Medien gedeiht auf diesem Mist. Die Leitmedien biegen sich die Realität zurecht, damit sie zur herrschenden Ideologie des Wertewestens und der regelbasierten Weltordnung (nach eigenen Regeln und Interessen) passt: Fluchtursachen? Gibt es nicht. Klimakatastrophe? Kriege? Schlimm, schlimm, aber was haben wir damit zu tun? Keine Analyse und Grundsatzkritik an der Macht demokratisch nicht legitimierter Konzerne, Schattenbanken, Denkfabriken, Stiftungen, die uns in intimer Verquickung mit der Politik beherrschen. Die Themen, die die Bevölkerung existenziell berühren – besonders also Krieg und Frieden, aber auch soziale Ungleichheit – verwandeln die Leitmedien in vernebelte Narrative.

Friedensdemo Zehntausender? In den großen Medien wird nichts über Inhalte berichtet. Wirtschaftskriege des Westens, Aufrüstung, Waffenexporte – alles notwendig gegen Putin. Bevölkerungsmehrheiten gegen weltweite Bundeswehreinsätze? Wird gecancelt. 850 US-Militärstützpunkte in aller Welt, deutsche Kriegsschiffe im Südchinesischen Meer – natürlich alles notwendig für Frieden und Freiheit. Oligarchen hat nur Russland, Propaganda betreibt nur der Feind. Cognitive Warfare der Nato sucht man vergeblich in der "freien Presse". Canceln, überwachen, Protest verbieten, Einreiseverbote gegen Andersdenkende: Eine Mehrheit in Deutschland denkt, die eigene Meinung nicht offen äußern zu dürfen. Die Realität wird durch einseitige Berichte passend gemacht; es findet sich immer ein "Experte" oder ein Parteienvertreter, der/die das herrschende Weltbild, die Narrative der alleingültigen Ideologie bestätigt.

Die Kritik am Angriffskrieg Russlands und am Terror der Hamas ist berechtigt. Wie aber steht es mit den Angriffskriegen in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien? An Folter, Regime Change, militärischen Interventionen der Nato und der "westlichen Wertegemeinschaft"? Wo blieb der Ruf nach Sanktionen? Lieferten die Leitmedien kritische Analysen und Hintergrundberichte über Weltherrschaftsansprüche der westlichen Vormacht USA, über Nato-Osterweiterung, völkerrechtswidrige Kriege mit Millionen von Toten? Konnten wir uns informieren über die zigfach UN-verurteilte Besatzungspolitik Israels, die menschenverachtende Behandlung der Palästinenser? Über die floskelhafte Beschwörung der Zweistaaten-Theorie, die von keinem israelischen Politiker ernst genommen wurde? Berichterstattung über Kriegsverbrechen, Folter, Verbrechen gegen die Menschlichkeit seitens einer rechtsextremen bis faschistischen Regierung in Israel fehlt weitgehend. Erfahrungen und Perspektiven der Palästinenser bleiben ausgeblendet. Stellungnahmen der UN-Sonderberichterstatterin Fr. Albanese schaffen es nicht in die Nachrichten. Sind tote Palästinenser weniger wert als israelische? Haben Palästinenser kein Recht auf einen eigenen Staat? Werfen Sie mal einen Blick auf die Landkarte Israels!

Um zu verstehen, wie die meinungsbildenden Zeitungen arbeiten, lohnt sich ein Vergleich mit Medien, die die Grundrechte auf Meinungs- und Pressefreiheit und deren Funktion in der Demokratie ernst nehmen. Lesen Sie etwa die Berliner Zeitung, die Artikel in der Wochenzeitung Freitag oder die NachDenkSeiten parallel mit den Beiträgen der Leitmedien. Das Ergebnis kann frappierend sein: Als lebte man in verschiedenen Welten. Genau das ist wohl der Grund dafür, dass der bayerische Verfassungsschutz die genannten Medien in einem Bericht aufführt, weil sie "Nachrichten passend zum russischen Narrativ verbreiten". Hier mutiert kritische Berichterstattung zu Propaganda für den Feind.

Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 19/2024. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

06. Oktober 2024

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