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Leo N. Tolstoi über Soziale Sünde und Revolution

Ein neuer Band der Tolstoi-Friedensbibliothek - eingeleitet mit einem Vorwort von Gregor Gysi

Redaktion Tolstoi-Friedensbibliothek

Schon als junger Mann, verstärkt aber nach seine religiösen "Kehre" um 1878 hat sich Leo N. Tolstoi (1828-1910) dem Leben der Besitzlosen im russischen Zarenreich zugewandt und sich inmitten der gesellschaftlichen Umwälzungen zu Wort gemeldet. Hierzu liegt bereits seit Anfang des Jahres der umfangreiche Sammelband "Bei den Armen" vor. Soeben ist nun in der Tolstoi-Friedensbibliothek als notwendige Ergänzung eine zweite Sammlung entsprechender Quellentexte erschienen unter dem Titel "Soziale Sünde und Revolution" - eingeleitet mit einem Vorwort von Gregor Gysi, der vorab u.a. Lenins Sicht des russischen Dichters beleuchtet.

Der neue Band vereinigt zentrale Texte Tolstois über das Privateigentum, die Versklavung der Arbeitenden, Wege der Befreiung und den Irrweg des Blutvergießens. Den frühen Ausführungen zur ‚Geldtheorie’ aus der Schrift "Was sollen wir denn tun?" (entstanden 1882-1886) folgen Wortmeldungen zur ‚Sozialen Frage’ und zum politischen Zeitgeschehen aus dem letzten Lebensjahrzehnt des Dichters: Moderne Sklaven (1900); Das einzige Mittel (1901); Der Zar und seine Helfershelfer (1901); An die Arbeiter (1902); Die große soziale Sünde (1905); Das Ende eines Zeitalters: Die bevorstehende Umwälzung (1905); Was tun? (1906); Aufruf an die Russen (1906); Die Bedeutung der russischen Revolution (1906); An den Premierminister P. A. Stolypin (1907); Brief an einen Revolutionär (1909); Über den Sozialismus (Fragment 1910); ausgewählte Aussagen Tolstois über die Beherrschten, die herrschende Klasse, Eigentumsverhältnisse und angestrebte Lösungen nach ‚Protokollen’ von Alexander Borissowitsch Goldenweiser (Zeitraum 1898-1909).

Der Anhang enthält eine ausführliche Zeittafel, einen Essay von Rosa Luxemburg, eine kommentierte Bibliographie zu den dargebotenen Texten sowie ein Verzeichnis der "Sekundärliteratur zu Leo N. Tolstois Schriften über die soziale Revolution, Sozialismus und Anarchismus".

Tolstoi, der Unzeitgemäße, setzt nicht auf industriellen Fortschritt, Parlamentarismus, blutige Revolution und eine Umwälzung nur der äußeren Verhältnisse. Sein Ideal bleibt die selbstorganisierte bäuerliche Landgemeinde: das "Dorf" als Raum eines herrschaftsfreien und gerechten Zusammenlebens, in dem es weder Entfremdung noch himmelschreiendes Elend gibt. Das Glück basiert somit auf einer einfachen, solidarischen Lebensweise - fern der Großstadt und ohne Luxusgüter aus der modernen Massenproduktion. Ein neues Selbstverstehen der Menschen im Einklang mit der Wegweisung einer unverfälschten Religion (Goldene Regel der Gegenseitigkeit, Bewusstsein der ‚Einen Menschheit’), darin besteht in seinen Augen die notwendige geistige Umwälzung.

Marxistische "Basis-Überbau"-Analysen bleiben Leo Tolstoi der Theorie nach ziemlich fremd. Dem doktrinären Sozialismus wirft er eine anmaßende Wissenschaft der kommenden Ordnung und Staatsgläubigkeit vor. Die Gewalt von Revolutionären bleibe dem nachfolgenden System der Macht stets immanent. Gutes könne nur ein Widerstehen ohne Blutvergießen hervorbringen. (Später wird Ernst Bloch fordern, das Ziel müsse im Weg durchscheinen.)

Der russische Graf propagiert jedoch keineswegs eine rein innerliche ‚Gesinnungsreform’: Die Beherrschten sollen vielmehr kategorisch alle Polizei- und Militärdienste verweigern statt mitzuwirken an ihrer eigenen Unterdrückung (‚Patriotismus’ muss als Herrschaftsinstrument entlarvt werden). Die Zahlung von Steuerabgaben, deren Verwendung im Staats- und Kriegsapparat der Besitzenden man nicht kontrollieren kann, ist unmoralisch. Grund und Boden sind - wie Luft und Wasser - niemandes Besitz, da doch alle von der Erde leben. Auch Fabriken bzw. industrielle Produktionsmittel können in einer lebenswerten Zukunft kein Privateigentum mehr sein. (Ein echtes Verständnis von Arbeiterbewegung und Streik fehlt jedoch.)

Im Vergleich mit der herrschenden Klasse im Zarenreich bescheinigt Tolstoi den revolutionären Kräften - trotz seiner Kritik an deren Konzepten und Kampfmethoden - eine höhere Sittlichkeit bzw. Berechtigung ihres Handelns. Gegen die politische Repression und insbesondere gegen die Flut der Hinrichtungen erhebt er bis zum letzten Atemzug seine Stimme. Nimmt man überdies eben Tolstois Ablehnung des Privateigentums von Boden und industrieller Produktionsinfrastruktur ins Blickfeld, erscheint die Abgrenzung vom ‚Sozialismus’ aus heutiger Sicht keineswegs wie eine undurchlässige Mauer.

Wenig bekannt ist eine von Alexander Goldenweiser überlieferte Aussage des russischen Grafen über den Respekt vor Karl Marx: "Die Chinesen nennen unter den Tugenden namentlich eine - die Achtung. Einfach Achtung, ohne Bezug auf irgendetwas Bestimmtes. Achtung gegenüber der Persönlichkeit und Meinung eines jeden Menschen. An dieser chinesischen Tugend lassen es oft ganz hervorragende Menschen ermangeln. So wird zum Beispiel in Henry George’s Buch ‚Fortschritt und Armut’ der Name Karl Marx kein einziges Mal erwähnt, und in seinem unlängst erschienenen nachgelassenen Werk widmet er Marx kaum acht lumpige Zeilen, wo er von der Nebelhaftigkeit, Verworrenheit und Inhaltlosigkeit seiner Werke redet." (Neuer Band, S. 406)

Leo N. Tolstoi: Soziale Sünde und Revolution. Texte über die moderne Sklaverei, Wege der Befreiung und den Irrweg des Blutvergießens. - Mit einem Vorwort von Gregor Gysi. (= Tolstoi-Friedensbibliothek B, Band 7; bearbeitet von P. Bürger). Norderstedt: BoD 2024.
(ISBN: 978-3-7693-0433-6; Paperback, 460 Seiten; 17,99 €)

Inhaltsverzeichnis, Leseprobe, Bestellangebot beim Verlag: https://buchshop.bod.de/soziale-suende-und-revolution-leo-n-tolstoi-9783769304336
Übersicht und Informationen über die gesamte Reihe (einschließlich der kostenfrei abrufbaren Digitalversionen) auf der Projektseite: www.tolstoi-friedensbibliothek.de  

Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. ist Kooperationspartner der Tolstoi-Friedensbibliothek.

Veröffentlicht am

26. Oktober 2024

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