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Gustavo Gutierrez zu würdigen

Von Norbert Arntz

Gustavo Gutiérrez aus Peru, der Mitinitiator der Befreiungstheologie, starb am 22. Oktober 2024 in Lima. Das ITP - aus politisch-theologischem und befreiungstheologischem Denken inspiriert - weiß sich von Gustavo´s Werk motiviert.

Befreiungstheologe aus Leidenschaft für das Leben

Der 1928 geborene Gutierrez studiert in Lima, Löwen und Lyon Medizin, Philosophie, Psychologie und Theologie. Als Priester der Erzdiözese Lima ist er lange Zeit als Pfarrer im Armenviertel Rimac/Lima tätig und zugleich Professor für Theologie und Sozialwissenschaften an der Katholischen Universität in Lima. Damit beglaubigt er die These, die seinem theologischen Arbeiten die Richtung weist: "La teología es una inteligencia del compromiso" - Theologie ist kein frommes Glasperlenspiel. Theologie ist vielmehr intellektuelle Erkenntnis, die im Glauben an den Gott des Lebens aus dem Engagement an der Seite der Armen stammt, weil ihnen das "Recht auf Rechte" verwehrt wird und sie zu vorzeitigem Tod verdammt sind. Gutiérrez fragt sich selbst, aber ebenso die Kirche und ihre Theologie, wie kann man von einem Gott der Liebe inmitten von Armut und Unterdrückung sprechen; wie vom Gott des Lebens zu Menschen reden, die tagtäglich einen ungerechten, gewaltsamen und vorzeitigen Tod sterben; wie von Auferstehung mitten in einer Lage, die das Zeichen des Todes an sich trägt; wie von dem gütigen Vatergott in einer unmenschlichen Welt; denn das heißt doch dem zur Unperson gemachten Menschen sagen, dass er/sie Sohn/Tochter Gottes sei. Diesen Grundfragen müssen sich die Theolog*innen stellen, wenn sie nicht zu überflüssigen Tröstern werden wollen wie die Freunde Hiobs im Alten Testament.

Gustavo widerspricht praktisch und theologisch entschieden der perversen Vorstellung, Gott sei es, der Armut, Elend und Hunger wolle oder zulasse - häufig legitimiert durch die missbräuchliche Verwendung des Bibelwortes "Die Armen habt ihr allezeit bei euch" (vgl. Mt 26,11/Joh 12,8).

Gustavo Gutiérrez und seine theologische Arbeit können nur verstanden werden, indem man die Verbindung zwischen seinem Lebensweg und seinem theologischen Denken versteht. Seine Theologie hat ihre Wurzeln und nährt sich im persönlichen Leben und im Erleben der gesellschaftlichen Umgebung. Aus einer indigenen Familie stammend kennt er aus erster Hand das unverschuldete Leid der Armen. Darüber hinaus wird er durch die in Kindheit und Jugend früh erfahrenen gesundheitlichen Probleme für das ihn umgebende Leid besonders sensibilisiert. Jahrzehntelang ist er Pfarrer im Rimac, einem Armenviertel am Christophorus-Hügel in der Nähe des Zentrums von Lima. Die Erfahrung von Glaube und Leid, von Hoffnung und Sehnsucht nach Leben, die er in der gelebten Nähe zum Alltag von Alten und Jungen, von Familien und Studierenden in seiner Gemeinde teilt, bestimmen entschieden und kreativ die Tonlage seiner Schriften.

"Die Menschen im Rimac haben mich mehr als alle Bibliotheken über Hoffnung mitten im Leid gelehrt. Diese Menschen stecken in einer Lage von Ungerechtigkeit und Ausbeutung und haben zugleich tiefen Glauben. Am Beispiel der Arbeit mit den kirchlichen Basisgemeinden erfahre ich, wie entschieden die Armen das Leben der Kirche prägen." Als "irrupción de los pobres en la iglesia", als "entschiedenes Auftreten der Armen in der Kirche" bezeichnet Gutiérrez diesen Prozess. Vgl.: Gutiérrez, G.: Quehacer teológico y experiencia eclesial, in: ders. Densidad del Presente, CEP Lima 1996, S. 329 ff. [Eigene Übersetzung]

Der Glaube an den Gott des Lebens macht die Menschen "solidarisch im Einsatz für das Leben und in der Verteidigung ihrer Rechte". Weder Hunger noch Armut sind Schicksal, schon gar nicht Verhängnis. Weltweit bekannt wird die Bezeichnung "Theologie der Befreiung" schließlich durch sein Buch von 1971: "Teología de la Liberación - Perspectivas" - "Theologie der Befreiung - Perspektiven". Es ist zweifellos das theologische Werk, das in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von allen lateinamerikanischen theologischen Veröffentlichungen den stärksten Eindruck hinterlässt, am meisten zitiert, kommentiert und übersetzt wird.
Die Mütter und Väter seiner Theologie sind die "kleinen Leute". Scherzhaft lässt Gustavo Gutiérrez in einem Gespräch beiläufig die Bemerkung fallen:

"Manchmal werde ich als ‚Vater der Befreiungstheologie’ bezeichnet. Ihr wisst, dass Vaterschaften kaum eindeutig zu bestimmen sind. Außerdem gibt es ja auch keine theologische DNA. Nein, die "Theologie der Befreiung" ist wirklich ein ökumenisches Gemeinschaftswerk. Ich bin nur einer von vielen in dieser Gemeinschaftsarbeit."

Die Befreiungstheologie im Konflikt mit politischer und kirchlicher Macht

Im Leben von Gustavo Gutiérrez beginnt im Jahre 1983 eine besonders bittere Phase. Massive Christenverfolgungen hatten mit der Ermordung des salvadorianischen Erzbischofs Romero in Lateinamerika einen neuen Höhepunkt erreicht, und zwar durch Regierungen, die sich als katholisch bezeichnen bzw. behaupten, das sogenannte "christliche Abendland" gegen den Kommunismus zu verteidigen. Schlimmer noch: es sind bestimmte kirchliche Kreise in Lateinamerika selbst, aber auch im Vatikan, die für die Befreiungstheologen nur Misstrauen und Ablehnung hegen. Ja, der Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, eröffnet gar einen ideologischen Krieg gegen die Befreiungstheologie und konzentriert seine ersten Angriffe auf die Theologen Leonardo Boff und Gustavo Gutiérrez.

Im Jahr 1983 sendet Kardinal Ratzinger ein Mahnschreiben mit "Anmerkungen zur Theologie der Befreiung von Gustavo Gutiérrez" an die peruanische Bischofskonferenz. Darin wirft Ratzinger dem Theologen vor, er übernehme "unkritisch eine marxistische Interpretation" der Elendslage der Menschen in Lateinamerika, folge dem marxistischen Geschichtsverständnis als einer vom Klassenkampf bestimmten Geschichte und fordere in diesem Sinn zum Kampf an der Seite der Unterdrückten auf. Seine Theologie fuße nur auf einer selektiven Interpretation der Bibel. Er identifiziere die Armen der Bibel unvermittelt mit den ausgebeuteten Opfern des Kapitalismus. Ratzinger begnügt sich nicht mit schriftlichen Interventionen; er drängt Papst Johannes Paul II. sogar dazu, die peruanische Bischofkonferenz zu einer Sondersynode nach Rom vorzuladen. Dort legt Ratzinger im Oktober 1984 den Bischöfen seinen Katalog von Vorwürfen gegen Gustavo Gutiérrez erneut vor und verlangt von ihnen, dessen Theologie zu verurteilen. Die peruanische Bischofskonferenz widersteht dem Ansinnen von Kardinal Ratzinger; sie verweigert die Verurteilung von Gustavo Gutiérrez. Kurz und bündig stellt sie in ihrer Antwort auf die Vorwürfe Ratzingers fest:

"Unsere Kirche hat sich durch die Erneuerungsimpulse des II. Vatikanischen Konzils, durch Medellín und Puebla verpflichtet gefühlt, das gläubige Volk auf seinem Weg in Glaube und Engagement zu begleiten. […] Eine besonders bedeutsame Wirkung bei diesem Bemühen hatte zweifellos die sogenannte ‚Theologie der Befreiung’, die von unserem Land ausgehend sich auch in den Nachbarvölkern verbreitet und dort Wurzeln geschlagen hat"."Documento de la Conferencia Episcopal Peruana sobre la Teología de la Liberación", Nr. 20, Lima 1984, in: Documentos de la Conferencia Episcopal Peruana 1979 - 1989, Asociación "Vida y Espiritualidad" VE, Lima 1989, S. 253ff. [Eigene Übersetzung]

Nach dieser Schlappe wählt Ratzinger eine andere Strategie für seinen Kampf gegen die Befreiungstheologie: das Mittel der Personalpolitik. Sobald ein befreiungstheologisch orientierter Bischof etwa aus Altersgründen oder durch plötzlichen Tod (wie im südlichen Andenhochland mehrfach geschehen) aus dem Amt ausscheidet, wird er durch einen willfährigen vatikanischen Gefolgsmann ersetzt. Die für die peruanische Kirche und für Gustavo Gutiérrez persönlich folgenschwerste Entscheidung dieser Art ist die Ernennung des OPUS-DEI-Vikars Juan Luis Cipriani zum Erzbischof von Lima. Er wird damit Bischof jenes Bistums, dem Gustavo Gutiérrez als Diözesanpriester angehört. Folgenschwer für Gustavo Gutiérrez persönlich, weil Cipriani sich nicht nur als Gegner der Befreiungstheologie hervorgetan hatte, sondern auch noch mit dem peruanischen Diktator Alberto Fujimori befreundet ist. Dessen Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos erledigt die "schmutzige Arbeit" für den Diktator. Um dem zu erwartenden Redeverbot durch den Erzbischof zu entgehen und um dessen Nachstellungen (möglichweise in Komplizenschaft mit dem Montesinos-Geheimdienst) zuvorzukommen, scheidet Gustavo Gutiérrez aus dem Bistum Lima aus und tritt dem Dominikanerorden bei. Im Jahre 2001 bestätigt der Dominikanerorden den Ordenseintritt des peruanischen Priesters. Die Motive werden offiziell nicht mitgeteilt. Allerdings weist der Orden ausdrücklich darauf hin, dass der direkte Vorgesetzte und Vertreter des Priesters gegenüber dem Vatikan nun nicht mehr der Erzbischof von Lima, Juan Luis Cipriani, ist, sondern der Generalobere des Ordens, Pater Timothy Radcliffe.

Radcliffe hatte bei früheren Gelegenheiten bereits seine Anerkennung für Gutiérrez ausgedrückt und ihn sogar mit Thomas von Aquin, einem der wichtigsten Theologen in der Geschichte des Dominikanerordens, verglichen.

Gustavo Gutierrez und Papst Franziskus

Zwar hatte der Vorsitzende der peruanischen Bischofskonferenz bereits im September 2006 feststellen können, dass die vatikanische Glaubenskongregation jeden Zweifel an der Theologie von Gustavo Gutiérrez ausgeräumt sehe. Damit war der annähernd dreißigjährige Dauerkonflikt von stets neuen Verdächtigungen, Unterstellungen und Verfolgungen endlich überwunden und Gustavo Gutiérrez rehabilitiert. Aber erst mit Papst Franziskus beginnt eine späte Wiedergutmachung. Zu seinem 90. Geburtstag am 8. Juni 2018 erhält Gustavo einen persönlichen Brief von Papst Franziskus. Darin schreibt der Papst:

"Zusammen mit Dir danke ich Gott, aber ich danke auch Dir für alles, was Du für die Kirche und die Menschheit durch Deinen theologischen Dienst und Deine vorrangige Liebe zu den Armen und Ausgestoßenen bewirkt hast. Ich danke Dir für all Deine Mühen und für Deine Art, das Gewissen jedes einzelnen Menschen so aufzurütteln, dass niemand gleichgültig bleiben kann angesichts des Dramas von Ausschluss und Armut. Mit dieser Einsicht bestärke ich Dich, in Deinem Gebet und in Deinem Dienst weiterzuwirken und dadurch die Freude am Evangelium zu bezeugen."

In dieser konfliktreichen Epoche lernen die Kirche der Armen und ihre Theologie der Befreiung schmerzlich, die Götzen des Todes vom Gott des Lebens zu unterscheiden. Diesem Thema widmet Gustavo Gutiérrez in seinem Buch "Der Gott des Lebens" das Kapitel "Götzendienst und Tod" Darin warnt er davor, den Götzendienst als eine längst vergangene Realität der Antike zu begreifen. Götzendienst stellt auch gegenwärtig eine Verirrung im Glauben dar. Und diese Verirrung bringt heute in Lateinamerika den Tod, zuerst all jenen, die kein Recht auf Rechte haben, den Armen.

"In der Bibel wird der Götzendienst als eine Gefahr gesehen, der jeder religiöse Mensch ausgesetzt ist." "Jeder Versuch, [Gott] unabhängig von seinem Reich zu finden und zu verstehen, bedeutet deshalb in biblischer Sprache, einen Götzen zu fabrizieren, einen Gott nach unserem Bild und unseren Wünschen zurecht zu schnitzen, dem Götzendienst anheimzufallen."

Mit anderen Worten: Gott wird geehrt, wenn die Menschen leben können; wo das Reich Gottes an Boden gewinnt; wo immer Menschen sich als Freunde und Freundinnen des Lebens erweisen. Wer dagegen Gott und Gottes Reich auseinanderdividiert, macht aus Gott einen Götzen. Dem stimmt Papst Franziskus uneingeschänkt zu, wenn er schreibt: "Für [die absolut geltenden Kategorien des Marktes] ist Gott unkontrollierbar, nicht manipulierbar und sogar gefährlich, da er den Menschen zu seiner vollen Verwirklichung ruft und zur Unabhängigkeit von jeder Art von Sklaverei." (EG 57)

Mit der peruanischen Kirche entdeckt Gustavo Gutierrez, dass die "kulturell Anderen", die indigenen und afroamerikanischen Kulturen, ein Potential aufweisen, das man als das evangelisierende Potential der "anderen Kulturen" bezeichnet - wie es in Puebla 1979 geschieht.

Die lateinamerikanische Kirche lernt, sich aus der kolonialen Herkunft zu lösen und die Kulturen der ursprünglichen und der afroamerikanischen Völker mit anderen Augen zu betrachten. Als Beweisstück dafür zitiert Gustavo Gutiérrez wiederholt das Pastoraldokument der Bischöfe aus der Andenregion "La tierra, don de Dios - derecho de un pueblo ["Das Land: Gabe Gottes und Recht des ganzen Volkes"] vom 30. März 1986. "Unser Andenvolk hat […] eine tiefe Erfahrung und Erkenntnis Gottes, des Schöpfers der Erde für alle und Verteidigers des Armen."

Die ursprünglichen Völker huldigen in ihren autochthonen Kulturen also keinem Götzendienst - wie die Conquistadoren zu allen Zeiten behaupten. Sie setzen der fünfhundertjährigen Invasion durch das christliche Abendland vielmehr Widerstand entgegen. Unterstützt von Teilen der bekehrten Kirche treten sie gegenwärtig organisiert auf und fordern von Kirche und Staat die ihnen zustehenden Rechte: auf ihre eigene Kultur und Sprache, auf ihr eigenes Territorium und ihre Regierungsformen, auf eigene Theologie und Kirche.

In seinem monumentalen Werk über das Denken von Bartolomé de Las Casas, dem "bekehrten Conquistador" und späteren Dominikaner, mit dem Titel "En busca de los pobres de Jesu Cristo" ["Auf den Spuren der Armen des Jesus Christus"], folgt Gustavo einerseits dem Bekehrungsweg dieses entschiedenen Kämpfers für die Rechte der Indios im 16. Jahrhundert. Andererseits gestattet das Werk Rückschlüsse auf das Engagement, dem Gustavo Gutiérrez selbst sich zeit seines Lebens verpflichtet fühlt:

"Bartolomé de Las Casas hatte die bewegende Eingebung, dass die Indios eben die Armen im Sinne des Evangeliums und letztlich Christus selbst seien. Dies ist zweifelsohne der Schlüssel zur Spiritualität und Theologie von Las Casas. Das Recht auf Leben und Freiheit, das Recht, anders zu sein, die Perspektive der Armen - diese Werte und Konzepte verbindet Bartolomé engstens mit seiner Erfahrung jenes Gottes, an den er mit all seinen Kräften glaubt, an den Gott Jesu Christi. Und aus eben diesem Grund stellt er seine Kräfte ganz in den Dienst der Befreiung der Indios. Das Engagement von Las Casas bedeutet - unabhängig von historisch bedingten Unterschieden - auch eine Herausforderung für uns heute. Auch in unseren Tagen müssen wir die Rechte der Armen und Unterdrückten […] verteidigen, für ihre Werte, und sogar für ihre physische Existenz, eintreten, weil sie immer noch wie "Nicht-Menschen" behandelt werden".

Gustavo Gutiérrez bleibt unser Freund unter den Toten. Seinen Anstoß greifen wir auf: Eine Kirche, die dem Leben der Armen dient, ist keine Option, sondern eine moralische und evangeliumsgemäße Verpflichtung.

Quelle: Institut für Theologie und Politik (ITP) .

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Fußnoten

Veröffentlicht am

28. Oktober 2024

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