“Der Sündenfall des Christentums”Das bahnbrechende Buch (1928) des niederländischen Friedenstheologen Gerrit Jan Heering ist im Regal zum frühkirchlichen Pazifismus als Übersetzung wieder greifbarRedaktion der Reihe "edition pace" Bevor wir im "Regal: Pazifismus der frühen Kirche" demnächst neue Studien darbieten, wird hier ein weiteres historisches Werk wieder zugänglich gemacht, das trotz des Abstandes von einem Jahrhundert noch immer wichtige Impulse geben kann. Zum editorischen Vorgehen sei bezogen auf die ganze Reihe angemerkt: Wir versehen die Werke aus früheren Zeiten nicht mit einem kritischen Anmerkungsapparat, in dem Abweichungen zu heutigen Sichtweisen und Erkenntnissen jeweils kommentiert werden (Beispiel: Darstellung und Gewichtung der Friedensbotschaft der Hebräischen Bibel), sondern rechnen mit mündigen Leserinnen und Lesern, die die geschichtlichen Kontexte einer Arbeit vor Augen haben. Der Erste Weltkrieg führte den niederländischen Theologen Gerrit Jan Heering (1879-1955) zu einem radikalen Antikriegsstandpunkt. Im Vorwort zu dem hier neu edierten Werk "Der Sündenfall des Christentums" (Erstauflage NL 1928, dt. Übersetzung 1930) schreibt er: Ich will "ernsthaft auseinandersetzen, dass Christentum und Krieg – jetzt mehr denn je – unversöhnliche Gegensätze sind. Ich will zwischen die christliche Lehre und die Ideologie des Krieges einen Keil treiben. Beide Systeme sind von der Geschichte zwangsweise zusammengeführt und werden jetzt in künstlicher Weise zusammengehalten. Ich will an das christliche Gewissen und an das von diesem Gewissen gelenkte vernünftige Denken appellieren und fragen, ob es nicht die höchste Zeit ist, dass Kirche und Christen sich prinzipiell gegen das ganze Kriegswesen auflehnen. … Es war eine verhängnisvolle Wendung in der Geistesgeschichte, die während und nach der Zeit von Kaiser Konstantin sich vollzog; durch das enge Bündnis zwischen Staat und Kirche ging das Bewusstsein des Gegensatzes zwischen Christentum und Krieg … verloren …; das schlimmste ist, dass man (seither) … ruhig Böses gut nennt. … Die Art, wie in allen christlichen Ländern die Kirche direkt in das gegenseitige Gemetzel des letzten Krieges [1914-1918] hineingezogen worden ist, nämlich als unentbehrlicher, als inspirierender Faktor, demonstriert jenen Sündenfall in deutlichster und greulichster Weise. Es ist kein größerer Abstand und Gegensatz denkbar, als zwischen Christus und dem modernen Krieg. Wer dies verneint, hat die Realität eines von beiden oder beider nicht klar gesehen. Das militärische Christentum unserer Tage kann nicht schärfer gerichtet werden, als es durch das Christentum Christi geschieht." Schon 2004 konnte die erstmals 1930 erschienene deutsche Übersetzung des Werks "De zondeval van het Christendom" durch Octavia Müller-Hofstede de Groot in die digitale "Handbibliothek Christlicher Friedenstheologie" aufgenommen werden. Jetzt liegt zu Weihnachten 2024 eine Neuedition innerhalb der Reihe "edition pace" (Regal: Pazifismus der frühen Kirche ǀ 2) vor. Die Internetversion ist – wie bei allen Publikationen des ‚Regals‘ – frei abrufbar; es gibt nachträglich aber auch die Möglichkeit, eine preiswerte Taschenbuchausgabe zu bestellen. Der Werdegang des Verfassers sei hier – zumeist wortgetreu – in Anlehnung an eine Darstellung aus der niederländischen ‚Bücherkunde‘ nachgezeichnet: Gerrit Jan Heering – geboren am 15. März 1879 in Pasuruan/Indonesien, gestorben am 18. August 1955 in Oegstgeest – wirkte nach seinem Universitätsstudium lange als Hochschullehrer des Theologischen Seminars der Remonstranten in Leiden (NL). Der Vater war seit 1868 Prediger in Indonesien gewesen. Die Familie kehrte 1881 in die Niederlande zurück. G. J. Heering ist dann ebenfalls Prediger geworden wie sein Vater, aber mit einer anders gefärbten Predigt, in der die geistliche Motivation deutlicher zu Tage trat, und mit einer anders ausgerichteten [‚rationalismus-kritischen‘] Theologie, die er in seiner Zeit als Hochschullehrer durchdacht und grundgelegt hat. Als Prediger diente er den Remonstranten-Gemeinden von Oude Wetering (1904-1907), Dordrecht (bis 1913) und Arnheim (bis zum Beginn seines Hochschullehramtes, April 1917). – Als junger Pfarrer heiratete er im Jahr 1905 Alida van Bosse; die beiden wurden Eltern von fünf Söhnen. – Heeringʼs Leidenschaft gehörte der Kanzel. Seine Predigten zeichneten sich durch eine starke persönliche Überzeugungskraft aus; verschiedene Predigtsammlungen sind in Buchform veröffentlicht worden (‚Unser Vertrauen‘; ‚Zeugnisse aus dunkler Zeit‘ 1940; ‚Was uns erhält‘). Predigen bedeutete für Heering die durch den Glauben getragene ‚freie prophetische Verkündigung des Evangeliums, im Dienste und zur Ehre des heiligen Gottes‘. – Gerrit Jan Heering entwickelte eine eigene "Dogmatik auf der Grundlage der Evangelien und der Reformation", schrieb über den "Ort der ‚Sünde‘ in der freisinnigen-christlichen Dogmatik" (1912) und über "Die Selbstständigkeit der Seele" (1917). Der Erste Weltkrieg führte ihn zu einem radikalen Antikriegsstandpunkt, beeinflusst von Hilbrandt Boschma (1869-1954), der bereits während der Kriegszeit 1914-1918 an verschiedenen Orten pazifistische Lesungen abhielt: "Kreuz oder Kanone?" – "Warum kein Krieg? Weil der Krieg die radikalste Sünde gegen Gott ist." Heering fasste seine eigenen Studien und Einsichten 1928 in dem Werk "Der Sündenfall des Christentums" zusammen (s.u.). Er gründete mit anderen "Kerk en Vrede" (Church and Peace), wurde Vorsitzender dieser Vereinigung auf nationaler Ebene und war für viele Jahre auch international eine der leitenden Persönlichkeiten des neuen kirchlichen Friedensnetzes. Die Friedensbewegung in den Niederlanden zeigte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg gut organisiert, vielgestaltig (‚Tolstojaner‘, Anarchisten, sozialistische Antimilitaristen …) und übernational vernetzt. Mit Gerrit Jan Heering und Persönlichkeiten, die ihm nahestanden, wurde sie durch eine neue Strömung mit ökumenisch-friedenskirchlicher bzw. friedenstheologischer Programmatik bereichert. Wie bedeutsam die 1928 vorgelegte Untersuchung des gelehrten Remonstranten zum ‚konstantinischen Sündenfall‘ und dessen mögliche Überwindung über die Landesgrenzen hinaus war, führen uns gleich vier Übersetzungen in andere europäische Sprachen vor Augen. 1933 ist der Verfasser sogar für den Friedens-Nobelpreis vorgeschlagen worden. Der bekannte Dominikaner und Friedenstheologe P. Franziskus Maria Stratmann (1883-1971) schrieb bald nach Erscheinen der deutschen Ausgabe von Heerings Werk "De zondeval van het Christendom" in einer Rezension (Der Friedenskämpfer. Organ der Katholischen Friedensbewegung 5. Jg. / 1931, S. 69-76): "Einem Christen tut es weh, vom ‚Sündenfall des Christentums‘ reden zu hören. Je stärker er seine Religion liebt, umso mehr schmerzt ihn jede Anklage. Aber gerade die starke Liebe muß hellsichtig sein, damit Krankes geheilt, Schwaches gestärkt werden kann. Die Christen, die die Geschichte des Christentums mit Einschluß der Kriegsgeschichte ganz in der Ordnung finden, sind sicher nicht die besten und erweisen ihm einen schlechten Dienst. Man muß deshalb für das Buch Heerings, das hier nur in seinem Kern, nicht in seinem sonstigen reichen Inhalt behandelt werden konnte, sehr dankbar sein. Der Verfasser selbst gehört, wie eingangs gesagt, zu denen, die an der Darlegung der Krankheitsgeschichte des Christentums alles andere als Freude haben. Er will nur als gewissenhafter Arzt an die Wurzel des Übels heran. Er sieht sie in einer Verwachsung des christlichen Edelbaumes mit einem ihm schicksalhaft, aber auch schuldhaft aufgepfropften Wildling, dem Krieg. Im letzten Teil des Buches gibt er sehr beachtenswerte Ratschläge zur Heilung des Übels. […] Die Wahrheit und der Ernst der Sache verlangen aber doch, daß wir alle Schuld nicht allein auf die Menschen, die Christen, wälzen und behaupten, sie hätten eben in ihrem schuldbaren Kriegführen eine an sich tadellose christliche Kriegslehre verleugnet, sondern wir müssen sagen, daß gewisse weit verbreitete Kriegslehren mindestens die gleiche Schuld treffen. Zahllose Christen hätten nichts lieber getan als einer möglichst strengen Kriegs- bzw. Antikriegslehre Gefolgschaft geleistet. Sie haben jedem obrigkeitlichen Befehl nur deshalb gehorcht, weil er sie dazu zwang und ihr widerstrebendes Gewissen vergewaltigte. Nötiger als eine Reform dieser Christen ist deshalb eine Reform dieser Lehren, mindestens eine neue Anwendung alter Lehren auf die von Grund auf veränderte heutige Situation. Eine vom Lehramt der Kirche definitiv formulierte oder gedeckte und darum im Glaubensgehorsam verbindliche, für jede Situation gebrauchsfertige ‚katholische‘ Kriegslehre gibt es nicht. Diese Feststellung ist von der größten Wichtigkeit. Sie läßt die Bahn frei sowohl für die theoretische Arbeit der Moraltheologie wie für das praktische Handeln der Katholiken. An dem Heeringschen Buche wird die Neuorientierung nicht vorübergehen können […]. Es ist eine bedeutende Bereicherung der pazifistischen Literatur, und auch der Katholik kann in ihm, trotz wesentlicher Vorbehalte, einen der Wegebereiter nicht nur des Welt-Friedens, sondern auch des ‚Friedens Christi im Reiche Christi‘ sehen." Wer die Kirchengeschichte kennt, weiß wie außergewöhnlich dieses – nur ein wenig vorsichtige – Lob für Heerings Buch aus dem Mund eines römisch-katholischen Ordenspriesters gegen Ende der Weimarer Republik erscheinen musste. In seinem Geleitwort zur deutschen Ausgabe des Werkes von 1930 hatte der evangelische Theologe Martin Rade (1857-1940) geschrieben: "Wenn der nächste Krieg kommt, werden die Kirchen nicht mehr geschlossen zu den Armeen stehn. Es wird dann nicht ohne schwere innere Konflikte gehen. Wie sie sich abspielen, wie sie sich lösen werden, weiß kein Mensch. Je länger die gegenwärtige Atempause dauert, desto besser mag es sein." (Neuausgabe, S. 10). Doch die ‚Atempause‘ bis zum nächsten Menschenschlachten im Zweiten Weltkrieg dauerte nur kurz. Die amtlichen Leitungen der beiden deutschen Großkirchen leisteten ab 1939 für den ‚Hitlerkrieg‘ (!) doch wieder – ziemlich ‚geschlossen‘ – kriegstheologischen Beistand in großem Umfang und riefen – mit durchschlagendem Erfolg – die Getauften zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit im NS-Staat auf ( Dokumentation ). Nach 1945 haben die i. d. R. vom Staat besoldeten Kirchenhistoriker wunderliche Verteidigungstexte zu diesem abgründigen Komplex verfasst – und nicht wenige ‚weltliche Vertreter‘ der Geschichtswissenschaften haben ihnen dabei unter dem Vorzeichen sogenannter "Historisierung" assistiert. Heerings Anliegen wird gegenwärtig verstanden, wenn etwa der Bischof von Rom bezeugt, es könne im Licht des Evangeliums keine ‚gerechten Kriege‘ geben und Christen müssten schon Herstellung oder Besitz atomarer Massenvernichtungswaffen als verwerflich brandmarken. Doch der vom niederländischen Seelsorger und Theologieprofessor nach dem Ersten Weltkrieg ersehnte radikale Bruch mit dem konstantinischen Staatskirchenparadigma hat in den privilegierten nationalen Kirchengebilden, zumal im Militärkirchenwesen, nie stattgefunden. Die völlig irrationale militärische Heilslehre stößt in diesem Zusammenhang heute nirgendwo auf eine Fundamentalkritik, während der Militarismus unentwegt Felder des öffentlichen Lebens für sich ‚zurückerobert‘. Leider gibt es viele Gründe, das ehedem bahnbrechende Werk "Der Sündenfall des Christentums. Eine Untersuchung über Christentum, Staat und Krieg" gerade jetzt wieder allgemein zugänglich zu machen. Möge es vielen zur Erschütterung und zu einem klaren Denken in der Kriegsfrage verhelfen. Düsseldorf, Dezember 2024 ǀ Peter Bürger Die Digitale Erstauflage der Neuedition ist beim Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. abrufbar: Gerrit Jan Heering: Der Sündenfall des Christentums. – Eine Untersuchung über Christentum, Staat und Krieg. Aus dem Holländischen übersetzt durch Octavia Müller-Hofstede de Groot, 1930. Neu ediert von Peter Bürger in Kooperation mit: Lebenshaus Schwäbische Alb, Ökumenisches Institut für Friedenstheologie, Portal Friedenstheologie. (= edition pace ǀ Regal: Pazifismus der frühen Kirche 4). Digitale Erstausgabe der Neuedition. Düsseldorf ǀ Gammertingen, 12.12.2024. https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/media/pdf/Heering_S%C3%BCndenfall.pdf Die gedruckte Buchausgabe im Handel: Gerrit Jan Heering: Der Sündenfall des Christentums. – Eine Untersuchung über Christentum, Staat und Krieg. Aus dem Holländischen übersetzt durch Octavia Müller-Hofstede de Groot, 1930. (= edition pace ǀ Regal: Pazifismus der frühen Kirche 4). Norderstedt: BoD 2024. (ISBN: 978-3-7693-2488-4; Paperback; 316 Seiten; Preis: 12,99 Euro) https://buchshop.bod.de/der-suendenfall-des-christentums-gerrit-jan-heering-9783769324884 Weblink:
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