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Deeskalation jetzt! – oder: Fragen an Michail Gorbatschow (II)

Von Leo Ensel

Das wichtigste politische Erbe, das uns Michail Gorbatschow hinterlassen hat, ist das von ihm mitentwickelte und erstmals in die politische Praxis umgesetzte Neue Denken. Es rückte das alle übrigen Gegensätze überwölbende Menschheitsinteresse in den Vordergrund: das Weiterleben als Gattung. – Heute benötigen wir eine Aktualisierung, ein "Neues Denken 2.0". (Teil II einer dreiteiligen Serie.)

Wege aus der Sackgasse in Rüstung und Politik

Die Ebene der Politik

  • Michail Sergejewitsch, die Welt stand während des ersten Kalten Krieges mehrfach am Rande eines alles vernichtenden Atomkrieges. Ich denke an die Kubakrise, mehrfache Beinahunfälle und Fehlalarme wie z.B. am 26. September 1983, als der russische Oberstleutnant  Stanislaw Petrow  zum Glück die Nerven behielt – überhaupt an die extrem zugespitzte Situation in den Achtziger Jahren, als sich die Vorwarnzeiten auf wenige Minuten dramatisch verkürzt hatten. Damals hat die Welt großes Glück gehabt, weil gerade noch rechtzeitig in der Sowjetunion ein Mann an die Macht kam, dessen Denken nicht nur auf der Höhe des Atomzeitalters war, sondern der auch den Mut und den entschiedenen Willen hatte, daraus die Konsequenzen zu ziehen. – Leider ist ein "neuer Gorbatschow" gegenwärtig weder in Russland noch in irgendeiner anderen Atommacht in Sicht, obwohl wir uns längst wieder in einer ähnlich brisanten Situation befinden …
  • Die Situation heute ist paradox: Im ersten Kalten Krieg betraten Pioniere wie Willy Brandt, Egon Bahr, Olof Palme und Sie komplettes Neuland, indem Sie Wege aus der Konfrontation suchten und diese dann auch mit großem Mut beschritten. Die Beendigung des ersten Kalten Krieges, ohne dass ein einziger Schuss fiel, war eine grandiose epochale Erfolgsgeschichte! – Man könnte denken, dass es heute eigentlich einfacher sein müsste, aus der Eskalationsspirale wieder herauszukommen, da es doch dieses große Vorbild gibt! Aber nochmal: Es gibt gegenwärtig nicht nur auf der Ebene der offiziellen Politik, sondern auch auf Seiten der Zivilgesellschaften anscheinend überhaupt kein Problembewusstsein. Kein Bewusstsein von der Größe der Gefahr! – Wie kann dieses Problembewusstsein auf allen Ebenen wieder geweckt werden, damit die Menschheit nicht schlafwandlerisch in die Totalkatastrophe taumelt?
  • Michail Sergejewitsch, Sie haben seit Ihrem (erzwungenen) Rücktritt aus der offiziellen Politik gefühlte hundertmal auf eine atomwaffenfreie Welt gedrängt und entsprechende Konzepte vorgelegt. Geschehen ist seitdem nichts – im Gegenteil, die Lage hat sich weiter verschlechtert: Die Atomwaffenpotenziale werden ‚modernisiert‘ und die Militärdoktrinen entwickeln sich in Richtung eines Ersteinsatzes, gar eines Präventivschlages. – Wie erklären Sie sich, dass all Ihre Appelle und Konzepte – man muss es leider sagen – echolos verhallt sind und welche Konsequenzen gilt es aus dieser (hoffentlich nicht völlig entmutigenden) Erfahrung zu ziehen?
  • Die USA und die NATO auf der einen Seite und Russland auf der anderen befinden sich nicht nur in einem brandgefährlichen Stellvertreterkrieg, sondern auch längst wieder in einem dramatischen Rüstungswettlauf. Außer dem New-START-Vertrag, der Anfang 2026 auslaufen wird und den Russland bereits ausgesetzt hat, sind mittlerweile nahezu sämtliche Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge, die zu Zeiten des ersten Kalten Krieges über einen langen Zeitraum mühsam ausgehandelt wurden, Makulatur. NATO-Truppen, darunter auch Soldaten der deutschen Bundeswehr, stehen seit 2016 im Baltikum, wenige hundert Kilometer vor der russischen Haustür entfernt. Parallel dazu kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu sogenannten "Critical Incidents" ("Dangerous Brinkmanships") zwischen NATO und Russland, vor allem über der Baltischen See und dem Schwarzen Meer. Nun ist der Stellvertreterkrieg in der Ukraine hinzugekommen und im Westen werden Stimmen laut, Soldaten aus NATO-Staaten in die Ukraine zu entsenden… Umgekehrt hat Russland kürzlichst seine Atomwaffendoktrin modifiziert und im November 2024 die neue Hyperschall-Mittelstreckenrakete Oreschnik im Ukrainekrieg erstmals eingesetzt. Mit einem Wort: Das wechselseitige Vertrauen ist auf dem absoluten Nullpunkt angelangt. Und ‚Druck von unten‘ auf die verantwortlichen Politiker in Richtung Deeskalation gibt es ebenfalls nicht. – Wie kann diese extremst gefährliche Eskalationsspirale so schnell wie möglich gestoppt und in ihr Gegenteil verkehrt werden? Welche Schritte müssten kurz- und mittelfristig unternommen werden? 
  • Michail Sergejewitsch, Sie haben damals die "Erbsenzählerei" der jahrelang festgefahrenen Genfer Abrüstungsverhandlungen überwunden, indem Sie den Mut hatten, sich vom quantitativen Denken zugunsten eines qualitativen Denkens zu verabschieden und diese "Kopernikanische Wende in der Abrüstungspolitik" auch durchsetzten. (Und dafür beziehen Sie in Ihrem Lande von vielen Menschen, die dem alten Denken verhaftet sind, ja noch heute Prügel…) – Wie kann bei allen politisch Verantwortlichen das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass es darauf ankommt, wieder in qualitativen Kategorien zu denken und entsprechend zu handeln?
  • Im Januar 1986 haben Sie – und das war eine weltpolitische Sensation – eine "Roadmap" zu einer atomwaffenfreien Welt bis zum Jahre 2000 vorgelegt. Trotz gewaltiger Abrüstungsschritte im nuklearen Bereich (80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit wurden verschrottet) konnte dieses Ziel damals nicht erreicht werden. Heute haben wir es mit einer größeren Zahl von Atomwaffenstaaten zu tun, die früher oder später noch weiter anwachsen wird, falls diese Entwicklung nicht umgehend gestoppt wird. Dazu kommt die parallele Aufrüstung im konventionellen Bereich und auf dem Gebiet automatisierter Waffen – nicht nur in der NATO und in Russland. – Michail Sergejewitsch, Sie und Ronald Reagan sind die einzigen Menschen, die es jemals geschafft haben, dass atomare Sprengköpfe – und zwar in großem Stil – verschrottet werden konnten. Diese Erfahrung muss unbedingt für die gegenwärtige und die kommenden Generationen genutzt werden! Wenn Sie heute wieder eine Roadmap zu einer atomwaffenfreien Welt, sagen wir: bis zum Jahr 2035, vorlegen würden, wie würde sie aussehen?
  • Es gibt in vielen westlichen Ländern, nicht nur in den USA, eine sehr mächtige Rüstungslobby. Sie selbst haben wiederholt von der Gefahr durch den Militärisch-Industriellen Komplex gesprochen. Dieser Komplex wird allen grundlegenden Abrüstungsbemühungen härtesten Widerstand entgegensetzen. – Wie kann man diese Hydra besiegen? Gelingt es vielleicht erst dann, wenn man, biblisch gesprochen, mit "Pflugscharen" mehr Geld verdienen kann als mit "Schwertern"?
  • Ergänzung: Muss man heute angesichts weltweit operierender gigantischer Finanzimperien wie z.B. BlackRock und anderer, die eine unvorstellbare Macht angesammelt haben und damit nicht nur großen Einfluss auf die Industrie und Politik, sondern auch auf die Medien, sprich: die öffentliche Meinung ausüben können, die Formel vom "Militärisch-Industriellen Komplex" nicht nochmal ganz neu denken und erweitern? Haben wir es heute vielleicht gar mit einem global operierenden Ungetüm, einem unsichtbaren nahezu totalitären "Finanzpolitisch-Militärisch-Industriell-Medialen Komplex" zu tun? Und welche Konsequenzen hat das für eine Politik, die weltweite und nachhaltige Abrüstung auf allen Ebenen anstrebt?
  • Zweite Ergänzung: In den letzten 250 Jahren hat sich, ausgehend von Europa, ein aggressives Wirtschaftssystem nahezu über den gesamten Globus – seit über drei Jahrzehnten auch in Ihrem Land – ausgebreitet, das ohne Expansion (blumig gesprochen: "Wachstum") offenbar nicht lebensfähig ist. Mittlerweile gefährdet dieses System der hemmungslosen Expansion und Akkumulation sämtlicher verwertbaren Ressourcen die Existenz unseres Planeten – sei es direkt durch Produktion fürchterlichster Waffensysteme, sei es indirekt durch die Zerstörung der Biosphäre. – Michail Sergejewitsch, Sie sind marxistisch gebildet und zugleich sind Sie der Mann, der dem Kommunismus den Todesstoß versetzt hat: Ist dieses kapitalistische Wirtschaftssystem überhaupt friedensfähig? Ist überhaupt eine "nachhaltige" oder auch eine sozialdemokratische Marktwirtschaft denkbar, die nicht auf dem System der hemmungslosen Expansion basiert? Wie könnte denn eine Alternative jenseits der marxistischen Utopie aussehen? Und wer könnte sie wie durchsetzen?
  • Michail Sergejewitsch, lassen wir uns nun einmal ganz groß denken und uns sehr weit in ein fast utopisches Gebiet vorwagen: Ist Ihrer Meinung nach eine Welt, die nicht nur die Atombombe und andere Massenvernichtungsmittel, sondern auch den Krieg selbst abgeschafft hat, möglich? Was muss geschehen, damit die Völker, damit die Menschen, nochmals biblisch gesprochen, "den Krieg nicht mehr lernen"?

Die Ebene der Zivilgesellschaften (der ‚einfachen Bürger‘)

  • In der westdeutschen Friedensbewegung der Achtziger Jahre gab es einen Spruch: "Der Frieden ist zu wichtig, um ihn nur den Politikern und Generälen zu überlassen!" Das heißt: Es ist heute wieder mehr denn je geboten, dass sich auch die sogenannten ‚einfachen Bürger‘ in allen Ländern für den Frieden, das heißt: gegen die Bedrohung durch Krieg und Massenvernichtungsmittel, gegen alte und neue Feindbilder und für Dialog und weltweite Abrüstung einsetzen. – Was erwarten Sie in diesem Punkt von den sogenannten ‚einfachen Bürgern‘ – oder wie man heute sagen würde: von den Zivilgesellschaften – aller Länder? Welche Aufgaben haben sie für die Erhaltung des Friedens und für Deeskalation? Und was erwarten Sie vor allem von uns Deutschen? Wir haben Ihnen ja nicht nur Mauerfall und Wiedervereinigung zu verdanken, sondern vor allem die drastische Reduktion der in den Achtziger Jahren sehr akuten Atomkriegsgefahr. Immerhin war die alte Bundesrepublik zu Zeiten des Kalten Krieges das Land mit der größten Atomwaffendichte der Welt! Beide deutsche Staaten waren das potentielle Schlachtfeld der Supermächte. Im Falle eines Krieges wäre hier kein Stein auf dem anderen geblieben. Und nun sollen in Deutschland wieder Mittelstreckenraketen stationiert werden, die Moskau und die anderen Städte im Westen Russlands treffen könnten… Daher noch einmal: Was erwarten Sie in dieser akuten hochbrisanten Situation speziell von uns Deutschen?

Zum Teil III dieser dreiteiligen Serie hier .

Zurück zum ersten Teil hier .

Quelle:  Globalbridge vom 28.12.2024.

Veröffentlicht am

30. Dezember 2024

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