Leonardo Boff: Gründe für hoffnungsvollen PessimismusVon Leonardo Boff Der heilige Franz von Assisi, "der immer fröhliche Mann", wie ihn seine Biographen nannten, pflegte seinen Mitbrüdern zu sagen, dass sie nicht zu viel über die Übel der Welt nachdenken sollten, damit sie keinen Grund hätten, sich bei Gott zu beschweren. Heutzutage macht es die Anhäufung von Übeln, welche die von Franz von Assisi so geliebte und von Franz von Rom verteidigte Natur und die Menschheit betreffen, insbesondere die Millionen und Abermillionen von Armen und Ausgegrenzten, schwierig, der Lehre der "Sonne von Assisi", wie Dante Alighieri ihn in der Göttlichen Komödie nennt, zu folgen. Wir haben unseren Moment mit Hiob, dem Nonkonformisten, und wir stehen vor Gott mit schmerzhaften Fragen: Wo war Gott, als Tausende unschuldiger Kinder im Gazastreifen durch die Bomben eines wahnsinnigen israelischen Premierministers, eines Vertreters des Bundesvolkes, ermordet wurden? Warum war er in solch tragischen Momenten still? Ist er nicht voller Liebe, "der leidenschaftliche Liebhaber des Lebens", wie es im Buch der Weisheit heißt? Auch wenn wir unter dem Schweigen Gottes leiden, glauben wir wie Hiob weiter an ihn, denn er kann sein, was unsere begrenzte Intelligenz nicht erreichen kann. Angesichts des nationalen und insbesondere des internationalen Szenarios und des tragischen Schicksals so vieler Opfer kommen einem die Worte aus Psalm 44 in den Sinn: "Du hast uns an den Ort der Schakale geschickt und den Schatten des Todes über uns gebreitet; wir werden wie Vieh behandelt; steh auf, warum schläfst du, Herr? komm uns zu Hilfe und erlöse uns durch deine Barmherzigkeit (44,20-27). Angesichts solcher Tragödien spüren wir den heiligen Zorn der Propheten. Warum unterstützen die Staatsoberhäupter der christlichen Länder Europas, warum unterstützt ein katholischer Präsident wie der der USA diesen Vernichtungskrieg, der zu einem Völkermord geworden ist, und tun es weiterhin? Wir fühlen uns ohnmächtig angesichts dieses Krieges mit völlig unverhältnismäßigen Beziehungen und anderen Kriegsschauplätzen wie der Ukraine und Völkermorden wie im Sudan. Wenn wir dann noch den ökologischen Alarm, die zunehmende globale Erwärmung, die gnadenlose Zerstörung der Natur und den ethischen und moralischen Verfall der Mehrheit der Weltgesellschaften berücksichtigen, werden wir mutlos. Wir werden pessimistisch, nicht ohne Grund, sondern weil die Realität schrecklich ist, um es mit den Worten des Schriftstellers José Saramago zu sagen. Wie können wir diesen objektiven Pessimismus bekämpfen? Ich sehe u.a. zwei Möglichkeiten, wenn auch innerhalb des herrschenden Systems: die gesamte Umweltgesetzgebung nutzen, die durch soziale und ökologische Kämpfe erreicht wurde und gesetzlich verankert ist; die Einhaltung vom Staat und allen Institutionen fordern; sie sind immer offizielle Referenzen, mit denen wir Druck auf diejenigen ausüben können, die sie verletzen. Zweitens: Suchen wir immer nach minimalen und realisierbaren Utopien, d.h. nach Verbesserungen innerhalb des Systems. Kein System ist so starr, dass es nicht Schlupflöcher hätte, durch die wir wie Keile Verbesserungen einführen können, wie z. B. Löhne über der Inflationsrate, die Zuteilung von landwirtschaftlichen Familienbetrieben und agrarökologischen Produkten für die Schulspeisung, den Zugang zu höherer Bildung für Studenten mit niedrigem Einkommen und Studenten afrikanischer Abstammung, die Verfügbarkeit virtueller Medien für Schulen und die Armen und vieles mehr. Solche Maßnahmen können selbst innerhalb eines ungerechten Systems dazu beitragen, den Pessimismus zu überwinden und zumindest einen Hoffnungsschimmer zuzulassen. Was uns noch Hoffnung gibt, ist das "Prinzip Hoffnung", jener innere Impuls, der der menschlichen Natur innewohnt, der uns dazu bringt, ein alternatives Paradigma zum aktuellen System zu entwerfen und an die Möglichkeiten in uns zu glauben. Wir sind ein unendliches Projekt, ein Wesen von grenzenloser Virtualität, nicht einmal der Himmel ist eine Grenze, weil wir ihn auch wollen. Unsere Wurzeln in dieser unerschöpflichen Quelle zu versenken, gibt uns Hoffnung. Deshalb lehnen wir das Mantra des herrschenden Systems ab: "Es gibt keine Alternative" (There is no alternative: Tina). Wir antworten: "Es gibt neue Alternativen", es gibt ein alternatives Paradigma, das eine andere Welt ermöglicht. Die weltweite Erfahrung hat gezeigt, dass durch die Arbeit am Territorium, den so genannten Bioregionalismus, lebensfähige und nachhaltige Gesellschaften geschaffen werden können. Das große globalisierte System ist nicht nachhaltig, weil es uns, seiner Logik der unbegrenzten Akkumulation folgend, in einen kollektiven Abgrund führt. Die Region ist nicht die, die von den Gemeinden künstlich abgegrenzt wird, sondern die, die von der Natur selbst geschaffen wurde. Die Region umfasst Flüsse, Wälder, Berge, Ackerland, Fauna und Flora, die Menschen, die dort leben, mit ihrer Geschichte, ihrer Kultur, ihren Traditionen und ihren bedeutenden Persönlichkeiten. In diesem Raum kann man integrierte Gesellschaften, partizipative Demokratien, eine regionale Entwicklung mit kleinen und mittleren Unternehmen schaffen, die im Einklang mit den Rhythmen der Natur produzieren, zuerst für den Eigenbedarf und erst dann für den Markt, eine echte soziale und ökologische Gerechtigkeit. Man könnte sich weite Regionen, vielleicht den ganzen Planeten als ein riesiges Geflecht von autonomen Bioregionen vorstellen, die gleichzeitig miteinander verbunden sind. Dies liegt im Bereich des Möglichen, und es hat den Effekt, dass sich "Pessimismus" in "Hoffnung" verwandelt. Halten Sie schließlich das Wissen wach, dass der Evolutionsprozess der Erde und des Universums einen Zeitpfeil hat, der nach vorne zeigt und systemische Krisen überwindet. Er ist nicht linear. Das Chaos ist nicht nur zerstörerisch, sondern auch generativ, weil in ihm eine neue Ordnung heranreift und um ihren Durchbruch kämpft. Es ist objektiv und hallt auch in unserem Bewusstsein nach, weil immer mehr Menschen erkennen, dass wir einen neuen Weg einschlagen müssen. Wir stehen auf zwei Beinen: mit einem Bein im System, das nach Verbesserungen strebt, und mit dem anderen in dem neuen System, das aufgebaut werden soll. So können wir "pessimistisch" sein angesichts der gegenwärtigen Realität, die schrecklich ist, aber "hoffnungsvoll", denn wie Keynes einmal sagte: "Es ist nie das Unvermeidliche, das geschieht; es ist immer das Unvorhersehbare", und auf dieses Unvorhersehbare hoffen wir. Wir sind herausgefordert, diese Wege mutig zu beschreiten und so eine unberechenbare Hoffnung zu leben und gute Gründe für einen hoffnungsvollen Pessimismus zu geben. Leonardo Boff ist Autor von O doloros parto da Mãe Terra, Vozes 2022; Habitar a Terra: a fratenidade possivel, Vozes 2023. Quelle: Traductina , 03.12.2024. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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