Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Mehr “Sauerland” wagen - mit Friedrich Merz?

Ein links-katholischer Kommentar - nicht ohne sauerländischen Heimatsinn

Von Peter Bürger

Das "kölnische Sauerland", meine Geburtsheimat, hat mich zeitlebens nicht losgelassen; eine ganze Bibliothek habe ich ihm vom rheinischen Exil aus gewidmet. Zur Geschichte gehörte ehedem die Magie einer katholischen Landschaft, ein noch in meiner Kindheit auf Schritt und Tritt mit religiösen Vollzügen durchwirkter Alltag. Von Schönheit und Elend müssen wahrhaftige Chronisten reden. Zur Schattenseite der heute gottlob pulverisierten Kleriker-Herrschaft zählten u.a. abgründige Sexualängste und die z.T. bedrückende Enge des Milieus.

Vom "Gender-Unfug" wusste man tatsächlich die meiste Zeit nichts. Auch eine erwachsene Frau wurde in der alten Mundart als Neutrum - als Sache - angesprochen ("das Maria", "das Lisabeth"). Der plattdeutsche Sprichwortschatz verkündete: "Weibersterben? Kein Verderben! - Viehverrecken: das bringt Schrecken!" Die bedeutsamste Mundartlyrikerin schrieb in ihrer Jugend einen hochdeutschen "Roman" wider die Unterdrückung der Frauen, der aber nur im Ruhrgebiet als Zeitungs-Serie erscheinen konnte …

Nach dem legendären Bundespräsidenten Heinrich Lübke (1894-1972), der übrigens als Katholik eine wirklich solidarische "Entwicklungshilfe"-Politik der jungen Bundesrepublik anstrebte, will dieser Tage ein anderer Sauerländer endlich Kanzler von Deutschland werden. Seit Dezember 2024 empfiehlt Friedrich Merz: "mehr Sauerland für Deutschland!" Angesichts seiner aktuellen Eskapaden im Parlament, die - ohne Rücksicht auf Verluste - der blau-braunen Rechtsaußen-Fraktion zugutekommen, fragen sich jetzt selbst Kirchen und Bürgerliche - auch traditionsbewusste "fromme Sauerländer" - was das denn heißen soll.

Wohl kaum gemeint ist bei den Merz-Machern eine ausgesprochen katholische Politik, die im Sinne des Bischofs von Rom: die Gleichgültigkeit angesichts des globalen Flüchtlingselends durchbricht; den Armen (statt den Großkonzernen ) zu Diensten steht; dem ökologischen Ernstfall auf unserem Planeten oberste Priorität einräumt; dem esoterischen Aberglauben, es könne im Atomzeitalter so etwas wie "gerechte Kriege" geben, mit einer auf den ganzen Erdkreis schauenden Friedensagenda entgegentritt. Nein, nein, bei diesen Themen hört man ausnahmslos schroffe Gegenthesen …

Die kommerziellen Phrasen des Heimatmarketings, die im Sauerland wie anderswo ohne wirkliche Inhalte zuverlässige "Identitäten" einer Region vorgaukeln, scheiden bei der "Mehr Sauerland"-Wahlkampagne wohl auch aus (sofern es nicht ums Sprüche-Klopfen gehen soll). Bezogen auf die substantielle Geschichte der Landschaft lässt sich dann aber bei der besagten Parole an höchst gegensätzliche Komplexe denken:

Sauerlandschauplatz: Soziale Gerechtigkeit und Kapitalismuskritik

Einstmals diente die katholische Christenpartei im südlichen Westfalen dazu, die kleinbäuerlichen Habenichtse dazu zu bewegen, die Sachwalter der Besitzenden und Hochwohlgeborenen zu wählen. Doch dann sorgten katholische Arbeiter erfolgreich dafür, dass - früher als in Nachbarlandschaften - ein Anwalt ihrer Klasse als Zentrumskandidat aufgestellt wurde. Der erste katholische Priester, der im 19. Jahrhundert in Deutschland positiv das Werk von Karl Marx rezipiert hat, stammte aus dem Sauerland! Es folgten "rote Kapläne" und geistliche Sozialreformer im Reichstag, die das ganze Land kannte. Namentlich in der Geburtsheimat von Friedrich Merz meldeten sich später nach dem Rechtsschwenk der Zentrumspartei um 1928 linkskatholische Antikapitalisten auf hohem Reflexionsniveau zu Wort. Was hieße nun hier "mehr Sauerland wagen"?

Sauerlandschauplatz: Militarismus und Friedenslandschaft

Als die Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts das jahrhundertelang von den fernen Kölner Erzbischöfen regierte katholische Sauerland unter ihre Herrschaft nahmen, wollte den Sauerländern das Soldatsein partout nicht gefallen. Viele desertierten, um nicht für die neuen Herren totgeschossen zu werden. Die Militarisierung der einverleibten "Neupreußen" vollzog sich erst über das von oben eingerichtete Kriegervereinswesens, aber nicht flächendeckend. Bei den "kleinen Leuten" hielt sich sehr lange eine antimilitaristische Mentalität.

Während der Weimarer Republik war das Sauerland geradezu eine Hochburg des Friedensbundes deutscher Katholiken (FdK). Bei den Leitgestalten gingen Pazifismus und Antifaschismus stets Hand in Hand. Auf die Friedenslandschaft Sauerland kann sich nicht nur ein katholischer Sozialist wie der Verfasser dieses Kommentars berufen; kirchlich ausgerichtete Christdemokraten, die in der Landschaft noch keineswegs ganz ausgestorben sind, halten die diesbezüglichen Überlieferungen ebenfalls hoch.

Sauerlandschauplatz: Gegensätzliche "Vorbilder" im deutschen Faschismus

Auch für den nachfolgenden historischen Abschnitt müssen wir uns entscheiden, was das heißen soll: "Mehr Sauerland für Deutschland"? Hitlers adeliger Steigbügelhalter Franz von Papen (Zentrumspartei) stammte aus Werl im Heimatgebiet kurkölnisches Sauerland. Hitlers katholischer Staatsunrechtler Carl Schmitt war auch Sauerländer, ebenso der erste röm.-kath. Priester mit einem Parteibuch der NSDAP …

Vor 1933 konnten die Nazis in kaum einem Dorf des kurkölnisch-katholischen Landschaftsteils Fuß fassen. Doch dann stellten sich auch machtbewusste (ehemalige) Zentrumspolitiker vor Ort dem NS-System zur Verfügung und hielten Reden im Sinne der "neuen Zeit" - darunter übrigens der Großvater von Friedrich Merz.

Anders orientierte Sauerländer blieben zumindest unangepasst oder widerborstig. Der harte, überschaubare Zirkel katholischer Fundamentalisten verbot für die eigenen Kinder das Tragen der braunen Uniform der "Feinde Christi". Fast jede Kommune kann sich an einen "Zeugen" erinnern, der von den deutschen Faschisten ermordet worden ist.

Demokratische Verantwortung heute

Was die Voreltern einst taten, das kann niemanden als Person belasten oder - im entgegensetzten Fall - ehrenvoll auszeichnen. Aber welchen "Vorbildern" wir folgen, wie wir selbst heute uns stellen und agieren, dafür müssen wir Verantwortung übernehmen.

Eine säkular-konservative (bzw. deutschnationale) Politik, die jetzt im Wahlkampf 2025 Angst vor "zu viel Migration" verbreitet und so mit den noch extremeren Hetzern paktiert, dient nicht nur der Befriedigung persönlicher Machtpläne. Sie verschleiert vor allem die Widersprüche, die die Menschen wirklich Tag für Tag schmerzlich spüren und die dennoch nicht zur Sprache kommen sollen, wie: desolate Infrastrukturen - kaputtgespart besonders zulasten von Kindern, Jugendlichen, Alten und Kranken; unbezahlbare Mieten und fehlender Wohnraum; ein maroder Schienenverkehr (was pausenlos volkswirtschaftlichen Schaden anrichtet und Aggressionen produziert) … und nicht zuletzt die irrationale Reichtumsansammlung bei wenigen Individuen unter rasantem Anstieg der Armut, was mit "Demokratie" nicht mehr zusammengereimt werden kann (in Bayern scheint es jetzt schon als staatsfeindlich zu gelten, wenn eine Pädagogin von "Profitmaximierung" zulasten der Lebensgrundlagen aller Menschen spricht - ein schöner "Freistaat").

Auf überkommene "sauerländische Traditionen" kann sich eine Hetzpolitik der Reichenlobby aber ganz sicher nicht berufen, wie Herr Deckers von der bedenklich verrutschten FAZ mit seiner Schelte "Kirche auf Abwegen" (FAZ, 30.1.2025) wohl richtig erahnt. Im letzten Jahrzehnt haben im Sauerland allerorten Gemeinden, Frauen und Männer unglaubliche Solidarität mit Flüchtlingen unter Beweis gestellt - zum Nutzen aller Beteiligten. Noch kirchlich geprägte Kommunalpolitiker*innen waren zuverlässige Aufklärer wider die destruktiven Manöver der Rechten.

Ein christdemokratischer Regierungspräsident hat mir - dem Linken - 2018 das Geleitwort für ein regionales Sauerland-Geschichtswerk gegen Rechts verfasst. (Im Folgejahr wurde dann in Hessen ein anderer Regierungspräsident, der couragierte CDU-Politiker Walter Lübcke, von Rechten ermordet.)

Ich selbst bin geprägt durch einen frommen, aber nicht bigotten Vater. Als vor über einem halben Jahrhundert Zuwanderung aus anderen Erdteilen im Hochsauerland erstmals sichtbarer wurde, vermittelte er seinen sechs Kindern durch eigenes Beispiel (u.a. im Heizungsbau-Handwerksbetrieb) das maßgebliche Fundament des Katholischen: die Bezeugung der - unteilbaren - Einen Menschheit auf dem ganzen Erdkreis.

Erst später konnte ich erforschen, dass der früheste Schriftleiter des Sauerländer Heimatbundes eine dem entsprechende "Heimatprogrammatik" schon in den 1920er Jahren entfaltet hat. Falls demnächst die Hetzer regieren, wird es wohl endgültig düster in Sachen Asyl-Grundrecht (Verfassung!), Zuwanderung und Integration. Dann aber würde alsbald die Zeit kommen, in der jeder klare Kopf sagen muss: "Armes Sauerland!"

Literatur:

Wer Literatur zur Landschaft sucht, mag die Publikationen des von mir betreuten Projekts "Sauerlandmundart" (Menü "daunlots": Sprache & Geschichte, besonders Nr. 59-61, 69-72, 75-78, 87, 100, 101) überfliegen oder eine Übersicht zur Buchreihe "edition leutekirche sauerland" aufrufen.

Transparenzhinweis zum politischen Standort des Verfassers:

In meiner "schwarzen" Jugendzeit war ich Kreisvorsitzender der christdemokratischen Schülerorganisation im Hochsauerland (schon damals als "CDA-ler" kein Fan von Friedrich Merz), habe allerdings die CDU gleichsam über Nacht verlassen, als 1979 der Pinochet-Lobredner Franz-Josef Strauß als Kanzlerkandidat aufgestellt wurde. Unter dem gegenwärtigen Bischof von Rom stelle ich mich gerne als "papsttreuer Katholik" mit weltkirchlicher Orientierung vor (Stichworte: Bezeugung der "Einen Menschheit"; Friedenslogik statt "Weltkrieg auf Raten"; Ernstfall der Ökologie; Kritik einer aggressiven Wirtschaft, die über Leichen geht). Politisch bin ich heute in pazifistischen Gruppierungen organisiert, außerdem in der Partei DIE LINKE, wo ich der "BAG Linke Christinnen und Christen" angehöre.

Zuerst erschienen im Online-Magazin Overton, 03.02.2025.

Veröffentlicht am

04. Februar 2025

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von