Über Mauern und GrenzenEinführung in die Versöhnungsbund-Jahrestagung am 9. Mai 2024Von Ullrich Hahn Vorbemerkungen: 1. Das Thema unserer diesjährigen Jahrestagung sind die Mauern und Grenzen. Diejenigen, die das Programm vorbereitet haben, haben im Einführungstext das Thema in seiner vielfältigen Bedeutung gut dargestellt. Dem muss zunächst nichts hinzugefügt werden. Ich will versuchen, das Tagungsthema in einen Zusammenhang mit dem Pazifismus zu stellen, der Grundlage unseres Vereins seit seiner Gründungsidee im August 1914 ist. 2. Im 3. Jahr hintereinander tagen wir während des Krieges in der Ukraine, jetzt auch noch während des Krieges in Israel und im Gazastreifen. Kriege haben auch schon früher die meisten unserer Jahrestagungen begleitet (die Kriege in Vietnam, im Irak, in Jugoslawien, in Mozambique, Angola und andere). Neu ist aber nicht nur die Intensität der deutschen Beteiligung, insbesondere durch umfangreiche Waffenlieferungen, sondern auch die parallel dazu erfolgte massive Aufrüstung der Bundeswehr und das erklärte Ziel, nicht nur das Militär, sondern die ganze Gesellschaft kriegstüchtig zu machen, d.h. auf einen Krieg vorzubereiten, der damit auch - ob mit oder ohne Absicht - wahrscheinlicher wird. Immanuel Kant schreibt dazu im Jahr 1795: "Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören. Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft immer dazu gerüstet zu erscheinen…" 3. Am 8. Mai, gestern vor 79 Jahren, ging der 2. Weltkrieg in seinem europäischen Teil durch die Kapitulation Deutschlands zu Ende. 4 Jahre später, am 8. Mai 1949, beschloss der parlamentarische Rat das Grundgesetz für die neu entstandene Bundesrepublik. Dieses Grundgesetz enthält nach den vorangegangenen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus ein dreimaliges "nie wieder", welches ohne Vorbild in einer früheren deutschen Verfassung und auch ohne Vorbild in der Verfassung anderer Länder war: Nie wieder sollten Menschen gegen ihr Gewissen zu einem Kriegsdienst gezwungen werden (Art. 4 Abs. 3), nie wieder sollten politisch verfolgte Menschen vor geschlossenen Grenzen stehen (Art. 16 - damals reichten dazu 4 Worte "politisch Verfolgte genießen Asylrecht") und nie wieder sollten Menschen, egal was sie getan hatten, den Tod verdienen (Art. 102 - auch hier genügten 4 Worte "die Todesstrafe ist abgeschafft"). Es fehlt leider ein eindeutiges "nie wieder" in Bezug auf den Krieg. Nur der Angriffskrieg ist verboten (Art. 26). Im Übrigen gilt die Zauberformel der völkerrechtlich erlaubten Selbstverteidigung’, die bis heute noch das Startsignal für nahezu jeden Krieg gewesen ist. Tatsächlich beginnt der Krieg mit der militärischen Verteidigung, noch nicht mit dem Angriff. Für diese Verteidigung rüsten alle Staaten, seit 1955 auch wieder die Bundesrepublik. Standortbestimmung des PazifismusIm Folgenden versuche ich eine Standortbestimmung des Pazifismus, beginnend mit dem Protest gegen die Normalität des Krieges und komme dann auch zu unserem Thema der Mauern und Grenzen: 1. Der Pazifismus ist nicht blind. Er unterscheidet zwischen Unrecht und Recht, zwischen Angriff und Verteidigung. Aber das vorangegangene Unrecht des einen rechtfertigt nicht das darauffolgende Unrecht des anderen. Bei zwei Seiten, die im Krieg stehen, ist keine im Recht. 2. Der Pazifismus steht deshalb nicht auf der Seite der Bewaffneten, egal welcher Seite, sondern bei den Unbewaffneten, insbesondere in Solidarität zu den Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren, die individuell Nein zum Krieg sagen. 3. Der Pazifismus steht damit auch auf der Seite der Opfer und widersteht gleichzeitig der Versuchung, deren verletztes Recht mit neuer Gewalt und neuen Opfern wiederherzustellen. Auch das völkerrechtliche Recht zur Selbstverteidigung zwingt nicht zur Gewalt. Es gibt auch sonst in der Rechtsordnung vieles, was erlaubt aber unvernünftig und manchmal auch tödlich ist, etwa der Vollrausch, Konsum des Nikotins, eine Fahrt mit 250 km auf der Autobahn, der unbegrenzte Reichtum der Wenigen, die Klimazerstörung durch maßloses Verhalten. 4. Der Pazifismus steht generell auf gegen den Tod und für das Leben in einem umfassenden Sinn, wie es z. B. Albert Schweitzer formuliert hat: "Ich bin Leben inmitten von Leben, das auch leben will". Der Pazifismus widerspricht deshalb der Lüge, dass Waffen Leben retten. Nicht nur die Bewaffnung selbst, sondern schon ihre Herstellung dient der Vorbereitung des Tötens und ist verwerflich. 5. Der Pazifismus wendet sich ab von allen Versuchen, das Militär und den "Soldatenstand" gesellschaftsfähig zu machen und ihre wahre Existenz als Geißel der Menschheit mit Ehre zu übertünchen. Der geplante Veteranentag ist Teil dieses Versuchs. 6. Der Pazifismus steht nicht nur gegen die ins Auge springende direkte Gewalt, vor allem des Krieges, sondern auch gegen die vielfältigen indirekten Vorkommen der Gewalt in den Strukturen von Staat und Gesellschaft. Er steht auch dort auf Seiten der Opfer, Menschen, die ausgeschlossen werden durch geschlossene Grenzen oder eingeschlossen werden hinter Mauern und verschlossenen Türen. Auch wenn uns Menschen fremd sind durch ihre Herkunft oder durch das, was sie getan haben, gehören sie doch zu uns, sind sie welche von uns. 7. Zu den Grenzen gehört die historische Tatsache, dass keine Staatsgrenze natürlich ist und kein Territorium eines Staates seit Urzeiten bestand. Die Territorien und ihre Grenzen sind alle das Ergebnis von Kriegen und wurden zumeist von den letzten Siegern gezogen. Ihre Ausdehnung beruht nicht auf natürlichen Rechten, sondern in der Regel auf früherer Gewalt, die sich in der Gegenwart oft genug auch wieder in direkter Gewalt gegen Flüchtlinge ausdrückt. 8. In seinem Eintreten für das Leben und die Rechte benachteiligter Menschen weiß sich der Pazifist unterstützt durch die Menschenrechte, die nicht weniger völkerrechtlich bestätigt sind als das viel zitierte Recht der Staaten auf Selbstverteidigung. Auch in unserem Grundgesetz haben die Rechte jedes Menschen an erster Stelle Eingang gefunden. Mit der Erinnerung an die für den Pazifismus maßgeblichen Artikel will ich abschließen. Den Inhalt dieser Artikel zu verwirklichen ist in erster Linie Aufgabe des Staates, soll aber auch Leitlinie unserer eigenen politischen Arbeit sein: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." (Art. 7 Abs. 1) "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." (Art. 2 Abs. 2 Satz 1). Arendsee, 09.05.2024 Ullrich Hahn Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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