Kurt Eisner: Revolutionär und Ankläger des deutschen MilitarismusEin neues Eisner-Lesebuch - eingeleitet durch die Darstellung des Weggefährten Felix FechenbachRedaktion der Schalom-Bibliothek | pb
EinleitungZur ‚Wirkungsgeschichte’ des am 21. Februar 1919 ermordeten Linkspazifisten Kurt Eisner (1867-1919) gehören - abgesehen von Versuchen einer Vereinnahmung durch unredliche Parteichronisten - gezähmte Erinnerungen, in denen der erste Ministerpräsident Bayerns als weltferner ‚Dichterprophet’ aufs Podium gehoben wird, sowie nachhaltige geschichtspolitische Attacken. Auch nach mehr als fünfzig Millionen weiteren Todesopfern in einem zweiten Weltkrieg kam es den im öffentlichen Raum maßgeblichen Meinungsproduzenten nicht in den Sinn, dass allein die antimilitaristische und pazifistische Minderheit in deutschen Landen seit dem 19. Jahrhundert einen realistischen - d. h. den wirklichen Weltverhältnissen entsprechenden - Standort eingenommen hatte. Noch 1959 wurden in der ‚Neuen Deutschen Biographie’ Eisners "Menschheitsbeglückungsträume" und sein "starrer Glaube an Deutschlands Kriegsschuld" beklagt; die Mehrheitssozialisten (MSPD) hätten ihn 1918 nur "allzu vorsichtig bekämpft". (Anton Ritthaler: ‚Eisner, Kurt’. In: Neue Deutsche Biographie, Band 4. Berlin: Duncker & Humblot 1959, S. 422f.) So schreiben Leute, die sich von den Leichenbergen der Geschichte nicht erschüttern lassen und obendrein jene - Eisner feindselig gesonnene - SPD-Linie kanonisieren wollen, die den Münchener Munitionsarbeiterstreik vom 31. Januar 1918 sowie auch die bayerische November-Revolution 1918 zum Sturz der Urheber des ‚Menschenschlachthauses 1914-1918’ hatte verhindern wollen. - Als zurechnungsfähig galt und gilt nur eine Politik, die unverdrossen der irrationalen militärischen Heilslehre folgt. In unserem Editionsregal "Pazifisten & Antimilitaristen aus jüdischen Familien" werden wir in Kürze eine sehr umfangreiche Sammlung von Eisners "Texten wider die deutsche Kriegstüchtigkeit" aus der Zeit bis 1918 herausbringen. Der vorliegende Band ist hingegen vornehmlich dem Revolutionär gewidmet, der danach trachtet, das System der Kriegerkaste zu überwinden - im Rahmen eines ganz und gar unglaublichen, weithin gewaltfreien Umsturzgeschehens. In folgenden vier Abteilungen versammelt das Lesebuch Texte von Kurt Eisner und mehreren Zeitgenossen: I. Der Revolutionär Kurt Eisner (1929) | Diese einleitende Gesamtdarstellung stammt aus der Feder des Weggefährten Felix Fechenbach (1894-1933), der zu Beginn des Jahres 1918 auf Seiten der Jugend am linkspazifistischen Protest in München beteiligt war und im Zuge der Revolution als Sekretär des Ministerpräsidenten gewirkt hat. Fechenbach, in der Weimarer Republik zuerst als ‚Vaterlandsverräter’ politisch verfolgt und dann 1933 von den deutschen Faschisten ermordet, gehört selbst zu jenen Menschen, an die wir im Rahmen der "Schalom-Bibliothek" erinnern wollen. Über seinen Lebensweg und sein Schrifttum klärt uns das ‚Westfälische Literaturlexikon’ auf (? Buch S. 443-450). II. Kommunismus des Geistes: 1903 - 1918 | Manche wollen Kurt Eisner als Schöngeist betrachten, der - wahlweise als Revisionist, Reformist oder Linksliberaler - erst sehr spät und nur halbherzig eine Umwälzung der bestehenden Verhältnisse angestrebt habe. Die Lektüre der Texte in dieser Abteilung mag mithelfen, einem solchen Missverständnis entgegenzutreten. Das vermeintlich ‚Schöngeistige’ - der Rückgriff auf die ‚bürgerliche Kultur’ - ist subversiv: "Indem die Bourgeoisie ihre Klassiker feiert, übt sie Verrat an ihnen, sie bricht ihnen das Rückgrat ihres Wollens und entseelt ihr heiligstes Streben. So werden sie zu schönrednerischen Spießgesellen der heutigen Bourgeoisie erniedrigt, gut genug, um eine Sache scheinbar schmückend zu verteidigen, die zu bekämpfen doch ihre Lebensaufgabe gewesen ist" (? S. 84). - Zudem: Eisners Entlarvung der sozialen Wirklichkeit des Kaiserreichs im Rahmen seiner politischen Publizistik imponiert … noch immer (? S. 183-201). III. Die Neue Zeit | Die unter dieser Überschrift dargebotenen Aufrufe und Reden Eisners 1917 - 1919 ergänzen als "Quellenanhang" das von Felix Fechenbach vorgelegte Lebensbild des Revolutionärs. Sie beziehen sich auf die Revolutionsmonate in Bayern; nachzulesen sind ebenfalls die in Bern Anfang Februar 1919 vorgetragenen Anklagen an die Adresse der deutschen Kriegsertüchtiger (zu denen auch die ab 1914 systemtreu agierenden "Mehrheitssozialisten" der SPD gehörten). IV. Zeitgenossen über Kurt Eisner: 1919 - 1929 | In der letzten Abteilung sind mit Gustav Landauer, Kurt Tucholsky, Theodor Lessing und Ernst Toller vier weitere Autoren vertreten, die selbst den Attacken antipazifistischer Judenfeinde ausgesetzt waren. - Besondere Aufmerksamkeit verdient zudem eine Gedenkrede Heinrich Manns vom 16. März 1919 (? S. 403-407): Die Sachwalter der "wurzellosen Ideologie der Macht" ("Machtschwindler") fürchten jenen "Menschentyp, der ihnen entgegengesetzt" ist, "der auf sittliche Tatsachen" baut "und die Kenntnis der Menschen für die erste Voraussetzung der Politik" hält. "Der erste wahrhaft geistige Mensch an der Spitze eines deutschen Staates erschien Jenen, die über die zusammengebrochene Macht nicht hinwegkamen, als Fremdling und als schlecht." Deshalb also musste Kurt Eisner - so oder so - beseitigt werden. | peter bürger * Alle Publikationen des Regals "Pazifisten und Antimilitaristinnen aus jüdischen Familien" erscheinen zunächst als Digitale Erstausgaben und sind frei abrufbar auf dem Projektportal www.schalom-bibliothek.org * * * Allerlei KriegsgedankenKurt Eisner schrieb diese Aphorismen Ende 1914: "In einer Zeit, da man millionenfältig unablässig dem Tode ins Gesicht sieht, wagt man weniger denn je der Wahrheit ins Antlitz zu schauen. Die Feigheit vor dem Leben!" "Die Lüge der Lüge ist die Entrüstung über die Verlogenheit der anderen." "Aussprechen, was nicht ist - die Strategie der öffentlichen Meinung." "Der Aberglaube, der den Kartenlegerinnen die Einsicht ins Schicksal anvertraut und honoriert, ist harmlos im Vergleich zu der Kraft des Wunders, sich aus Zeitungen aufzuklären, obwohl man doch weiß, daß sie aufhören würden zu erscheinen, wenn sie der Aufklärung dienen wollten." "Es war einmal ein Haarwasserfabrikant, der glaubte schließlich an seine eigenen Reklamen, und ein Kahlkopf, der sich nach der Lektüre der Gebrauchsanweisung einbildete, daß ihm Haare gewachsen sei[e]n. Die Macht des Gedruckten oder: Redakteur und Leser!" "Alle diplomatischen Veröffentlichungen über den Ursprung von Kriegen lassen sich in den einen halben Satz zusammenfassen: Unvorbereitet, wie ich mich habe …" "Kriegsethik: Handle so, wie du wünschest, nicht behandelt zu werden." "Die Pflicht der Neutralen: Sie haben das Recht, dir Angenehmes zu sagen, dich zu unterstützen. Oder aber sie sind nicht neutral." "Erfinde etwas ganz Dummes. Es ist die Meinung von niemandem und von nichts. Telegraphiere es nach Kopenhagen: es wird eine beachtenswerte Stimme. Übermittle es von Kopenhagen nach Buenos-Aires. Dann ist es die tiefsinnige Meinung eines in Hindostan sehr bekannten Gelehrten (den man bisher aber in Hindostan ebensowenig kannte wie sonstwo). Treibe die Zeilen von Buenos-Aires nach Moskau und sie werden zum Verzweiflungsausdruck eines Volkes. Gelingt es dir endlich, deine Eingebung von Moskau über Christiania, Haag, San Franzisko, Kapstadt, Paris, London nach - Genf oder Zürich zu hetzen, so darfst du stolz annehmen, daß sie nun die öffentliche Meinung der gesamten zivilisierten Welt vereinigt." "Der Krieg ist in der Tat die Schule des Altruismus: Niemals denkt man so ausschließlich nur an die anderen und hört nur von den anderen: von der Zahl ihrer Toten, Gefangenen, Verwundeten, von ihren Völkerrechtsverletzungen und ihren Greueln." "Es gibt einen Weg zum Weltfrieden! Wenn es allen plötzlich einfiele: Sagen wir uns einmal gegenseitig die Wahrheit." Textquelle: Kurt Eisner: Allerlei Kriegsgedanken. In: Die Aktion (Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst) Nr. 27/28 vom 10. Juli 1920, Spalten 386-388. [Online-Ressource: archive.org]. Kurt Eisner als Revolutionär und Ankläger des deutschen Militarismus. Ein Lesebuch - eingeleitet durch die Darstellung des Weggefährten Felix Fechenbach. Herausgegeben von Peter Bürger, in Kooperation mit dem Lebenshaus Schwäbische Alb. (= edition pace | Pazifisten & Antimilitaristen aus jüdischen Familien | 7). Norderstedt: BoD 2025. (ISBN 978-3-7693-6836-9; Paperback 464 Seiten; 17,99 Euro). 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