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Kurt Eisner: Wider die deutsche Kriegstüchtigkeit

Erinnerung an den ersten Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern angesichts des Militarismus heute - ein weiterer Quellenband

Von Peter Bürger

Vorgestellt wurde an dieser Stelle schon der Band "Kurt Eisner als Revolutionär und Ankläger des deutschen Militarismus" (ISBN 978-3-7693-6836-9). Mit der Sammlung "Texte wider die deutsche Kriegstüchtigkeit" liegt jetzt der zweite von insgesamt drei Teilen einer friedensbewegten Edition zu Kurt Eisner (1867-1919) vor, bei der das Lebenshaus Schwäbische Alb als Kooperationspartner beteiligt ist. (Der gedruckten Buchausgabe ging eine Digitale Erstauflage auf dem Internetportal www.schalom-bibliothek.org voraus .)

Im April 1915 bemerkte der Linkspazifist und spätere bayerische Ministerpräsident mit Blick auf den Weltkrieg: "Nur deshalb wirken bei uns alle Ereignisse als über uns hereinbrechende Plötzlichkeiten und Überraschungen, weil die allgemeine Öffentlichkeit sich für die Zirkel nicht interessiert, in denen die deutsche Politik tatsächlich organisiert wird." Seine hier in zwei Abteilungen zusammengeführten Aufsätze, Reden und Dichtungen wider die deutsche Kriegstüchtigkeit aus den Jahren 1893-1918 zeigen, dass Eisner selbst zu jenen gehörte, die schon früh vor dem Militarismus im Kaiserreich und einem bevorstehenden Weltkrieg gewarnt haben. Mit großer Klarheit durchschaute er - aus eigener Profession - insbesondere die Rolle der militärgläubigen Medien und des "Kriegerjournalismus".

Die Auswahl der Sammlung erhellt jedoch andererseits Entwicklungen und Irrwege. Anfang August 1914 schrieb Eisner zunächst gar, "dass es den Vernichtungskrieg gegen den Zarismus gilt, den wir gepredigt, solange es eine deutsche Sozialdemokratie gibt." Erstaunlich lange versuchte er später auch noch als Gegner des "Burgfriedens" und Aufklärer wider die regierungsamtliche Kriegslüge die Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten irgendwie zu rechtfertigen (nämlich mit dem Schutzbedürfnis der einfachen Soldaten, die den Krieg ja nicht angezettelt hatten). Erst 1917 erfolgte ein endgültiger Bruch mit jener SPD, die getreu der ihr von den Mächtigen zugewiesenen Aufgaben das Herrschafts- und Militärsystem weiterhin stützte. Vor allem eine schonungslose Analyse der deutschen Kriegsschuld machte Kurt Eisner im Zuge der bayerischen Revolution zur Zielscheibe der Hetze von Vorwärts-Redaktion, bürgerlicher Presse und Rechtsextremisten - was schließlich zum Mordattentat vom 21. Februar 1919 führte.

Unvergleichlich hat Kurt Eisner - als Journalist, Dichter, Zensuropfer und Politiker - die Rolle der Medien vor, in und nach dem Kriege beleuchtet. Dank des freundlichen Entgegenkommens von Prof. Dr. Dr. Frank Jacob und des Metropol Verlages können wir in unserer Darbietung der diesbezüglichen Arbeiten auch den trefflichen Einakter "Der Fernschreiber" (Nachlasstext von 1918) mit einbeziehen.

Noch immer gelten jene, die (trotz der dramatischen Lage auf dem Planeten) Billionen in Todesindustrien investieren und sich bereit erklären zur Preisgabe von hunderttausenden oder Millionen Menschenleben, als ‚verantwortungsvolle Realpolitiker’. Wer aber wie ehedem Kurt Eisner Heiligkeit, Schutz und Förderung des Lebens als oberste Maßgabe des politischen Handelns betrachtet, wird von den Erdzerstörern als unverantwortlicher ‚Träumer’ oder ‚Ideologe’ beschimpft.

Diesen Aberwitz einer Verkehrung von Vernunft und Wahnsinn im öffentlichen Raum zu demaskieren, das gehört zu den vordringlichsten Herausforderungen. Denn der ultimativ aggressive kapitalistische Komplex, so Eisner, verhindert, "für den Aufbau neuer Kulturwerte, für produktive Zwecke, für Mehrung und Erhöhung des Lebens die notwendigen Mittel zu finden, er gibt aber unendliche, in der Tat unerschöpfliche Mittel her, um Kulturwerte zu zerstören, Leben zu verderben und zu vernichten. … Lässt sich überhaupt ein System menschlicher Ordnung denken, das derart wider alle Vernunft, wider alle Zweckmäßigkeit ist?"

Eingeleitet wird der neue Band mit einem exzellenten Essay des Historikers Volker Ullrich, verfasst für ein Projekt des Donat-Verlags: "Kurt Eisner, der glänzende Journalist und streitbare Sozialist, war einer der ganz Großen der deutschen Arbeiterbewegung".

Kurt Eisner: Texte wider die deutsche Kriegstüchtigkeit. Zusammengestellt von Peter Bürger - mit einem einleitenden Essay von Volker Ullrich. (= edition pace | Regal: Pazifisten & Antimilitaristen aus jüdischen Familien 6). Norderstedt: BoD 2025.
(ISBN: 978-3-7693-5730-1; Paperback; 448 Seiten; 16,99 €).

https://buchshop.bod.de/texte-wider-die-deutsche-kriegstuechtigkeit-kurt-eisner-9783769357301

Eine Feuilleton-Leseprobe

Mensch-Ersatz-Würfel

Ein Triumph deutscher Wissenschaft (April 1916)

Von Kurt Eisner

Alles lässt sich ersetzen - wir wissen das heute [in Kriegszeiten] bestimmter, als je zuvor in der Weltgeschichte. Es gibt Salatöl-Ersatz, in dem sich noch eher Salat als Öl findet. Wir ernähren uns mit Ei-Ersatz, das heißt einem Pulver, das gänzlich unverdächtig ist, irgend etwas mit Eigelb oder Eiweiß zu tun zu haben; nicht einmal Eierschalen haben an diesem vortrefflichen Ersatznahrungsmittel Anteil. Wer hätte noch nicht auch dem unflätigsten Regenstrom siegreich trocken widerstanden, sofern er nur den unübertrefflichen echten Ersatz für den kongenialen Ersatz von prima Lederersatzersatz, Marke Antischund, unter den Füßen getragen. Und längst füttern wir uns billig und bekömmlich mit Gänsebraten und Kraftbrühe in Würfelform - jeder Würfel für zwei reichliche Portionen langend. Von der geistigen Nahrung nicht zu reden, wo schlechterdings alles Gedruckte, Gesprochene, Gedachte, Gefühlte Ersatz für irgend etwas ist, was ehedem einmal Wahrheit und Vernunft war.

Aber so hervorragend auch die Technik dieser Ersatzstoffe und die Organisation ihres Vertriebs ist, es wurde bisher immer noch als ein peinlicher Übelstand, geradezu als ein Verstoß gegen die Grundgesetze der Energetik - größter Wirkungsertrag bei geringstem Kräfteaufwand - empfunden, dass diese Ersatzstoffe doch ein sehr weitläufiger Umweg seien, um die Existenz der Menschen zu sichern. Wie es für den gesunden, technisch gereiften und sittlich gestählten Menschenverstand nicht leicht begreiflich ist, warum man die Kinder erst heranwachsen lässt, sie umständlich und kostspielig aufzieht, um sie hernach den Wirkungen von Granaten, brennenden Flüssigkeiten, Giftgasen, Luftbomben und Torpedos auszusetzen, anstatt die kleinen Wesen gleich auf chemischem Wege in Sprengstoffe zu verwandeln und sie so unmittelbar und ohne Kräfteverlust der Landesverteidigung dienstbar zu machen, - so hat deutscher Forschergeist rastlos mit der Sinnlosigkeit gerungen, dass die Menschen künstlich mit Ersatzmitteln erhalten werden müssen, anstatt dass man die Menschen selbst ersetzt. Mit gewohnter Energie ist der Problemstellung die Problemlösung gefolgt.

Soeben ist es dem Professor Kraftmüller, dem berühmten Mitglied des Kaiser-Wilhelm-Instituts in Berlin, gelungen, die Frage des Menschenersatzes durch die geniale Tat zu beantworten. Und wir sind in der Lage, soweit es die militärischen Interessen gestatten, einige Andeutungen über diese Erfindung zu geben, die man epochemachend nennen könnte, wenn mit dieser letzten und endgültigen Universalerfindung nicht auch die Epochen selbst gänzlich als überflüssig und veraltet aufhören würden. Schon als die ersten Gerüchte dieser Erfindung ins feindliche Ausland drangen und man nun mit Schrecken ahnte, dass jetzt das deutsche Menschenmaterial unbegrenzt, unerschöpflich, unzerstörbar, nicht mehr auszuhungern sei, sank die anfängliche Siegesstimmung genau so auf den Nullpunkt, wie sie übrigens, nach den amtlichen Berichten des W.T.B. und den wahrhaft neutralen Feststellungen des Seldwyler Extrablattes seit zwanzig Monaten mindestens sechsmal täglich gesunken ist. (Von diesem Seldwyler Blatt erscheint in Wirklichkeit nur der als Quelle benötigte Titel; der jeweilig zweckmäßige Inhalt entsteht erst während der telegraphischen Übermittelung durch Urzeugung.) Das ficht uns natürlich nicht an. Wir werden uns diese Erfindung und ihren rücksichtslosen Gebrauch nicht beschränken lassen und wir würden auch einer etwaigen Note des Präsidenten Wilson mit kühler Ruhe und unbeirrbarer Entschlossenheit entgegensehen.

Es ist eine bekannte Tatsache, dass der Mensch aus einer gewissen, dem Gewicht nach nicht großen Menge fester chemischer Bestandteile besteht; es sind nur ein paar Kilo. Was man so einen gewöhnlichen lebenden Menschen nennt, ist in Wirklichkeit eine durch Flüssigkeiten und Gase unmäßig aufgeblähte Masse, und gerade dieses verwickelte und gedunsen üppige Beiwerk macht die menschliche Kreatur so verwundbar, jammervoll, widerstandsunfähig und kostspielig. Erst im Krematorium tritt, nach Verdampfung alles Flüssigen und Gasartigen, der echte Kern zutage. Allerdings ist dieser, den hohen Hitzegraden ausgesetzte Kern nicht mehr als lebendig, als menschenähnlich zu betrachten. Die Aufgabe war nun, die chemischen Stoffe, aus denen der Mensch besteht, in den genauen Mischung-Proportionen so zusammenzusetzen, dass sie - ohne Raumverschwendung - einen völligen Mensch-Ersatz - nicht nur die Aschenrückstände der Verbrennung - erzielen. Dies aber ist Professor Kraftmüller gelungen. Er hat ein Verfahren entdeckt, mit dessen Hilfe automatisch aus den notwendigen Rohstoffen sich in unbegrenzter Haltbarkeit und Zahl kleine Mengen kristallisieren, die mit peinlichster Präzision alle Elemente enthalten, in dem der Natur abgelauschten Verhältnis der Zusammensetzung, die einen Menschen ausmachen. Die verwandten Rohstoffe sind dabei durchaus reell, kein Ersatz; nur der verschwindende Gehalt an Gold, der im menschlichen Blut vorhanden ist, mußte, da der Gelehrte selbstverständlich sein Gold zur Reichsbank gebracht hat, durch kleine Partikel von Kriegsanleihe-Abschnitten (die ja so gut wie Gold sind!) ersetzt werden. Professor Kraftmüller hat lange geschwankt, in welcher Form er diese Mensch-Ersatz-Masse pressen solle. Er kam schließlich zu der Überlegung, dass die Nachahmung der menschlichen Figur nicht empfehlenswert sei; sie ist zu unübersichtlich, gebrechlich, die herausstehenden Glieder, die dünnen Verbindungszylinder reizen geradezu an, sie abzubrechen und sonst zu verstümmeln. So kam er zu der soliden, hinlänglich erprobten Würfelform.

Damit ist nun die menschliche Ernährungsfrage für immer gelöst, und alle übrigen sozialen, politischen, religiösen, geistigen, imperialistischen, ästhetischen, organisatorischen und disziplinellen Fragen ebenfalls. Die ungeheuren Vorteile der Mensch-Ersatz-Würfel sind in die Augen fallend. Es ist erstens ihr geringes Gewicht, nur wenige Kilo, die doch alle festen chemischen Bestandteile des Menschen vollwertig enthalten. Die handliche und geschmackvolle Würfelform ermöglicht ihre Unterbringung auf geringstem Raum; die gefährlichen Expansionsbedürfnisse sind hinfort undenkbar. Die Wohnungsfrage ist gelöst. Die Würfel verwittern fast gar nicht, so dass ihre Lebensdauer einige Jahrbillionen garantiert dauert, und sie sicher noch die Vereisung und den Zerfall der Erde unversehrt überstehen werden. Sie bedürfen keiner Nahrung, es tritt also niemals Übervölkerung ein. Sie können in beliebiger Zahl hergestellt werden, so dass auch das Problem des Geburtenrückgangs ein Gespenst der Vergangenheit ist. Dabei sind die Mensch-Ersatz-Würfel von so widrigem Geschmack, dass selbst die unflätigsten Tiere nicht wagen würden, sie zu verschlingen; sie haben folglich absolute Sicherheit gegen jede Gefährdung ihrer Existenz, zumal sie auch zugleich so fest und so elastisch sind, dass keine Gewalt sie auseinander zu sprengen vermöchte.

Der nachdenkende Leser - und wir wissen, dass wir nur solche haben - wird einen Einwand erheben, wie es denn um die Seele, insbesondere um die deutsche Seele der Mensch-Ersatz-Würfel stünde. Auch diesen Umstand hat Professor Kraftmüller gebührend berücksichtigt und es gelang ihm, nach unendlich mühsamen Versuchen, eine verblüffend einfache Lösung zu finden. Als er nämlich daran ging, den Seelenextrakt aus den menschlichen Wesen, wie sie bisher in Deutschland üblich waren, zu ziehen, gewahrte er, dass - in einer kultivierten, d. h. organisierten und disziplinierten Gesellschaft - das, was man Seele nennt, nichts ist, als die Nummer, die ihr die Gesellschaft gibt, und es zeigte sich denn auch in der Tat, dass nach der Gerinnung der aus deutschem Rohmaterial gewonnenen chemischen Menschenstoffe ganz von selbst, bei der Pressung der Würfel, sich an der Oberfläche leichte Vertiefungen bildeten, die bei näherer Prüfung sich als - immer verschiedene - deutlich lesbare Ziffern herausstellten. Damit war klar, dass die Mensch-Ersatz-Würfel nicht nur eine deutsche Seele hatten, sondern sogar jeder einzelne eine individuelle Seele. Und es war weiter bewiesen, dass diese Mensch-Ersatz-Würfel eine wohlgeordnete, höchst zivilisierte Gesellschaft besaßen, wobei es dem ästhetischen Sinn der zur Ausbeutung der Erfindung bereits gegründeten Aktiengesellschaft überlassen bleibt, die Form der Schichtung der einzelnen Würfel möglichst geschmackvoll und zweckentsprechend zu wählen.

Somit steht die einzige, noch zu erledigende Aufgabe der deutschen Menschheit fest. Es gilt, so rasch wie möglich eine unendliche Zahl dieser deutschen Mensch-Ersatz-Würfel zu produzieren und über das - größere! - Deutschland planmäßig zu verbreiten. (Was die anderen Völker tun oder lassen, interessiert uns nicht.) Dann ist die Unsterblichkeit und die Unzerstörbarkeit des deutschen Menschen verbürgt, und wir in der bisherigen mangelhaften Form lebenden deutschen Menschen können dann ruhig eingehen oder uns auf eine der sinnreichen und mannigfaltigen Weisen ausrotten, in denen die menschliche Zivilisation es in letzter Zeit zu solcher Meisterschaft gebracht hat.

Veröffentlicht am

12. März 2025

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