Eugen Drewermann in Ulm: Warum Frieden mehr Mut braucht als KriegAm Karsamstag, den 19. April 2025, sprach der Theologe, Psychoanalytiker und Friedensaktivist Eugen Drewermann auf dem Ostermarsch in Ulm. In einer bewegenden Rede vor mehreren hundert Zuhörenden wandte er sich gegen die Rhetorik der Aufrüstung, die Kriegsbereitschaft der Politik und die Entmenschlichung durch militärischen Gehorsam. Mit Bezug auf Jesus, die Bergpredigt, historische Pazifisten und die eigene Familiengeschichte spannte Drewermann einen Bogen von der Bibel bis zu den Kriegen der Gegenwart. Er stellte unbequeme Fragen, prangerte das Vergessen und Verdrängen von Kriegsschuld an - und appellierte eindringlich an die Menschlichkeit jedes Einzelnen. Seine Worte sind eine Einladung zum Nachdenken - über Frieden, Schuld, Mitgefühl und darüber, was es heißt, in dunklen Zeiten Mensch zu bleiben. Wir dokumentieren die Rede in einer sprachlich überarbeiteten Fassung - nah am Original, mit klarer Gliederung, aber ohne inhaltliche Eingriffe. (Pressenza Berlin)
Liebe Frau Stellmach, Von ganzem Herzen danke ich für die Einladung, zu Ihnen sprechen zu dürfen - in dem Bewusstsein der Dankbarkeit für Ihr Engagement gegen Kriegsrüstung und Kriegsbereitschaft und für Ihr Engagement zugunsten des Friedens. Das kostet in unseren Tagen Mut. Im Ohr habe ich noch den Auftritt von Ex-Kanzler Scholz im August letzten Jahres auf dem Marienplatz in München. Im Hintergrund seines Vortrags - zur Erläuterung seiner Politik fürs Volk - sieht er Jugendliche, vor allem mit Plakaten von Friedenstauben. Die fährt er an: "Das sind vielleicht gefallene Engel aus der Hölle, weil sie dem Kriegstreiber Putin das Wort reden." Das ist der Stil - das ist der Stil -, mit dem man Friedensbereitschaft dämonisiert. Ich müsste kein Theologe sein - und müsste nicht zu Ihnen sprechen - am Karsamstag vor Ostern, um nicht zu sagen, Herr Scholz: Wenn Sie die Botschaft der Engel über den Fluren von Bethlehem derart verteufeln, sind Sie selber dabei, mit allem, was Sie können, diese Welt in die Hölle zu verwandeln. Sie erklären stolz, dass Sie ein Atheist sind. Das mag sein, wie es wolle. Aber was davon abhängt, wie man denkt, zeigt sich in einem Beispiel Ihres Vorgängers - der schätzenswert ist, weil er seine strategischen Überlegungen zur Politik offen geäußert und zur Diskussion gestellt hat: Helmut Schmidt. Es gibt einen Fernsehauftritt gemeinsam mit Jacques Chirac. Die beiden reden buchstäblich über Gott und die Welt, unter anderem auch über ihre Stellung zur Religion. Der Franzose bekennt ohne Schwierigkeiten, dass er ein gläubiger Katholik ist. Helmut Schmidt - genauso ehrlich - bekennt sich als Atheisten. Wie Helmut fragt Jacques Chirac: "Kann ich dir erklären: 1941, an der Ostfront, am Nachmittag, kommt der Militärgeistliche und erläutert, dass auch dieser Krieg in den Händen Gottes liegt. Eine Nacht lang hat mich das beruhigt. Am anderen Morgen wusste ich: Er hat Unrecht." Wie Helmut Schmidt möchte ich fragen: Wenn das so ist - wie konnten Sie weiter marschieren gegen Moskau? In einem Krieg, von dem Sie wussten, er ist von Wahnsinnigen angezettelt - und, wie Sie später glaubten erkennen zu können, von Verbrechern? Treu Ihrem Fahneneid von 1935: "Unbedingter Gehorsam auf den deutschen Führer Adolf Hitler". Wenn Sie wussten, der Militärpfarrer lügt - hätten Sie da nicht sagen können: Er verfälscht die gesamte Botschaft des Christentums? Mit Jesus ist kein Krieg zu machen. Das müssten Sie sagen. In der Karwoche ist das mehr als bedenkenswert. Jesus zieht ein in Jerusalem, und man erwartet in ihm messiasähnliche Attitüden. Der "Sohn Davids" soll jetzt kommen - und was wird er dann tun? Das heilige, von Gott gegebene Land von den Römern befreien? Wie mit einem eisernen Zepter die Römer vernichten? Das erwartet man. Stattdessen führt Jesus - mit einem Zitat des Propheten Sacharja - eine ganz andere Geste vor: Käme je ein Mann von Gott, ritt er ein friedfertig, unbewaffnet, auf einem Esel. Und die erste Maßnahme, die er treffen will - Sacharja, Kapitel 9, zum Nachlesen - ist: Dass er die Kriegswagen verbrennt und die Bogen zerbricht. Für unsere Tage heißt das: sämtliche Taurus-Raketen abschaffen, sämtliche Mörsergranaten beseitigen. Einseitige Abrüstung! Dieses Programm ist gefährlich. Hätte Helmut Schmidt 1941 gesagt: "Ich verweigere meinen eigenen Fahneneid. Ich marschiere nicht gegen Russland in einem derartigen Krieg" - noch konnte er nicht wissen, dass am Ende 27 Millionen Sowjetbürger tot sein würden. Frauen und Kinder vertrieben, mit MGs aus ihren Häusern gebrannt. Ganze Dörfer erfroren in der Steppe. All diese Verbrechen - haben sie mitbegleitet aus Angst vor dem, was folgen würde? Steht doch in Mein Kampf bei Adolf Hitler: "Soldaten können sterben - Deserteure müssen sterben." Okay. Wir lernen gerade: Man kann den Frieden nur wollen, wenn man den Tod nicht fürchtet. Am Vorabend von Ostern ist das der Kern des ganzen Christentums: Wir glauben nicht länger an das Sterben. Wir wollen ein Leben - ohne Angst. Die ganze Serie der Geschichte von Pazifisten im 20. Jahrhundert zeigt, dass es auf Leben und Tod steht. In Frankreich wird der Chef der Sozialisten 1914 - weil er an den Frieden glaubt - ermordet. Er hält es nicht für möglich: 1908 stehen in Nordfrankreich drei Zechen in Brand nach einer Schlagwetterexplosion - und deutsche Kumpels kommen mit Masken und Rettungsgeräten, in Kameradschaft, für die französischen Kumpels. Ist das möglich? Dass sechs Jahre später dieselben Leute mit dem Bajonett aufeinander losrennen? Um sich in den Magen zu stoßen? Mit Handgranaten die Unterleibe zu zerfetzen? Mit Artilleriefeuer ganze Batterien wegzufegen und in einen Leichenhaufen zu verwandeln? Ist das möglich - unter Arbeitern? Man muss vielleicht noch nicht einmal Christ sein - nur ein einfacher Mensch -, um zu begreifen: So geht das nicht. Bloß weil die da oben es so wollen. Aber es bleibt gefährlich, es zufrieden zu sein. Mahatma Gandhi wird ermordet. Martin Luther King - weil er gegen den Vietnamkrieg ist - ist gefährlich für die USA. Beim kolonialen Vietnamkrieg ermordet 1995 ein israelischer General: Rabin - weil er endlich will, dass die Osloer Verträge eingehalten werden. Juden und Araber sind beide Kinder Abrahams - und hätten es nötig, im Heiligen Land, wenn es denn von Gott gegeben ist, einander zu verständigen. Dafür wird er ermordet. Genau wie vor ihm der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat - er will Frieden mit Israel. Todesurteil. Schlag auf Schlag geht das so. In den Tagen, von denen Helmut Schmidt gezeichnet war, finden Sie einen einfachen österreichischen Bauern: Franz Jägerstätter. Er hört sich das Geschwätz nicht länger an. Der deutsche Führer führt den Krieg gegen den Atheismus, für das Christentum, für die Freiheit gegen den Bolschewismus. Was er sieht, ist ganz einfach: Es ist ein Wirtschaftskrieg - für Rohstoffe. Und inzwischen ein Rassenkrieg - der Germanen gegen die Slawen. Es wird immer verrückter. Jägerstätter weigert sich, in diesen Krieg hineinzuziehen - mit Berufung auf die Botschaft Jesu. Darauf steht das Todesurteil. Aber die, die ihn ermorden, staunen über die innere Ruhe und die Angstfreiheit von Jägerstätter. Die Friedensbewegung, solange ich sie kenne, hat einen zentralen Fehler begangen - den wir heute Nachmittag ausräumen müssten und könnten: Sie hat immer wieder für Frieden plädiert - aus Angst vor dem Krieg. Auch jetzt: "Oh Gott, es könnte ja ein Atomkrieg kommen… oh, wie furchtbar!" Das war bei der Diskussion um die Pershing II, 1983, für Hunderttausende ein Grund, in Bonn aufzumarschieren - weil jeder wusste: Bei einem Auseinandersetzungskrieg zwischen Russland und den USA werden die Atombomben nicht in der Wüste von Nevada abgeworfen, sondern just hier - in Deutschland. Angst also - als Grund für Frieden. So aber kann der Frieden nicht kommen. Denn Angst ist immer dialektisch. Jetzt droht man uns mit dem Aggressor Putin - so wie ich das kenne, seit 1952 mit dem Aggressor Stalin. Immer war der Russe gefährlich, immer kam er durch ganz Europa, immer wollte er alles besetzen… Dabei sind - und waren - wir selber es, die Deutschen: Zweimal schon in Russland - und jetzt ein drittes Mal wieder gegen Russland. Man macht uns Angst - damit man Krieg führen kann. Und die Bevölkerung fängt an, es zu glauben: "Wir müssen stark sein! Wir müssen uns wehren!". Und plötzlich begeben wir uns in ein Irrenhaus - mit der Diagnose: Paranoia. Denn die ganze Menschheitsgeschichte - sehen Sie - ist gekennzeichnet durch dieses absolute Drama: Wir müssen das Böse bekämpfen - denn das Böse macht uns Angst. Und was setzen wir dagegen? Gegen Gewalt? Wir müssen stärker sein als der Böse - indem wir noch böser werden! Und ihn niederzwingen - mit den Waffen, die er einsetzen könnte, die wir aber schon verbessert haben, ehe er sie einsetzen kann. Und dann werden wir ihn vernichten. Baerbocks Sprache: "Russland ruinieren." Ich höre sagen - aus den Mündern der Politiker: "Man kann mit der Bergpredigt keine Politik machen." Ich sage es mit Mahatma Gandhi: Es gibt keinen Weg zum Frieden - der Weg zum Frieden ist der Friede. Und wer nicht mit ihm anfängt - kann nicht bei ihm ankommen. Genauso konnte Gandhi sagen: "Man muss mit der Bergpredigt Politik machen - oder man wird überhaupt nie einen Frieden erreichen." In Münster, beim Treffen der Außenminister, fragte mich ein Reporter: "Was werden Sie jetzt sagen?" Ich sage: "Leistet dem Bösen keinen Widerstand." - "Wie bitte?" Ich sag: Ja. Matthäus, 5. Kapitel, Vers 39. - "Die Bergpredigt versteh ich immer noch nicht." - "Deshalb halte ich ja einen Vortrag." - "Hab ich keine Zeit für!" - "Gut, dann hetzen Sie weiter in Gedankenlosigkeit in das nächste Drama des Massenmords. Schreiben Sie in der Zeitung: ‚Mit der Bergpredigt darf man keine Politik machen’ - weil wir den Frieden nicht wollen. Wir wollen unsere Macht." Die Demonstration unserer Gewalt. Wir sind die Richtigen und die Guten - im Kampf gegen die Bösen. Schreiben Sie jeden Quatsch - nur berufen Sie sich nicht mehr auf mich! Dabei - wie recht dieser eine Satz der Bergpredigt hat, und die ganze Welt verändern könnte… Die gesamte Politik - das werden Sie aus eigener Erfahrung kennen. Sie gehen nach Hause - und Ihr Sohn macht irgendetwas, das Ihnen nicht passt. Dann können Sie ihn anfahren: "Solange du deine Füße unter meinen Tisch setzt, gehörst du mir! Ich bin der Herr im Hause!" Wenn Sie Krach haben mit Ihrer Frau, können Sie genauso loslegen: "Du bist doch vollkommen… Ich weiß doch, wie es ist! Hör jetzt mal zu!" Nach dieser Art üben Sie Gewalt aus - und eskalieren den Konflikt bis zum Unlösbaren. Genau das Gleiche erleben Sie in unserer Politik. Für Pädagogen nehme ich ein anderes, kleines Beispiel: Auf dem Pausenhof sind mal wieder zwei Jungs aufeinander losgegangen. Die Klasse schaut zu - und beide haben ihre Unterstützer. Jeder hat da seine Vorstellung, wie man "richtig draufschlägt". Der eine ist schwächer als der andere - schon von der Statur. Dem muss man helfen. Vielleicht… ein Taschenmesser könnte helfen. Wenn der ein Taschenmesser hat, braucht der andere ein Bajonett. Wenn der ein Bajonett hat, brauchen wir eine Handgranate. So können wir weitermachen… Kein Lehrer auf dem Pausenhof wird die Eskalation der Gewalt in dieser Weise unterstützen. Er wird simpel sagen: "Ihr hört jetzt auf!" - "Aber der hat ja angefangen!" - "Es ist mir völlig egal, wer angefangen hat. Ich will jetzt, dass ihr beide aufhört!" Und dann müsst ihr reden - über die Gründe eures Zwistes: Was hasst ihr derart an dem anderen, dass ihr ihn nur verprügeln mögt - statt euch zu verständigen? Eines ist in dem Satz Jesu von absolut entscheidender Bedeutung: Wir haben Angst vor dem, was wir auf der Gegenseite als das "Böse" betrachten. Aber wenn wir in dieser Weise eskalieren - mit Gewalt dagegen anzugehen -, ignorieren wir die Angst, die wir dem anderen machen. Unsere Angst ist exakt dieselbe, die wir bei demjenigen auslösen, den wir "den Gegner" nennen. Auch dafür noch ein Beispiel: Helmut Schmidt redet mit Breschnew über die Dislozierung der Pershing-II-Raketen. Und der Russe sagt: "Wenn ihr eure Raketen in Deutschland stationiert - dicht an den Grenzen Russlands -, haben wir Angst." Und Helmut Schmidt sagt: "Eure SS-20-Raketen machen uns Angst. Wir sind in Deutschland - dem dichtest besiedelten Gebiet Europas." Was für eine Chance, frage ich Sie: Wenn die beiden Politiker gesagt hätten: "Wir hören auf - mit der Idiotie: Wer macht wem mehr Angst?" Wer beantwortet die eigene Angst mit Angstverbreitung, mit Aufrüstung, mit immer stärkeren Waffen? Wir hören damit auf - weil da kein Mensch ein Mensch bleiben kann. Sondern jeder wird zum Terroristen der Gegenseite. Das wird kein Frieden - sondern bestenfalls am Ende ein Gleichgewicht des Schreckens: Terror der Politik - angeblich als Frieden. Wir hören damit auf - das hätten wir 1983 haben können. Durfte aber nicht sein - weil Amerika seine Raketen natürlich in Westdeutschland stationieren musste. Was Sie jetzt lernen, ist grundsätzlich von Belang: Wir bekämpfen das Böse als ein Symptom, und die Gründe, wie es zustande kommt, dürfen uns nicht interessieren. So ist einheitlich die Sprache heute: "Wir müssen uns verteidigen gegen den russischen Angriffskrieg." Wie ist er denn zustande gekommen, der Angriffskrieg? Das darf man nicht denken. Das darf man nicht sagen. "Das ist ja das Narrativ von Putin. Das ist ja wieder mal Russland-Hörigkeit. Wieder sind wir, 70 Jahre später, die nützlichen Idioten irgendeines russischen Diktators." Aber es ist ganz wesentlich, dass wir die Hintergründe begreifen. 1989 - aus den Händen eines Russen - lag der Frieden fertig auf dem Tisch. Und die russische Armee tat, was versprochen war: Sie zog sich aus Gesamtdeutschland zurück, aus dem Baltikum zurück. Versprochen war Gorbatschow: Die NATO, wenn sie nicht ganz überflüssig wird nach dem Abbau des Warschauer Pakts, wird sich keinen Zentimeter nach Osten weiterbewegen. James Baker sprach das. Helmut Kohl wiederholte es - in Moskau. Und es war - von Anfang an - eine bedachte Lüge. Die NATO hatte damals 17 Staaten. Heute hat sie 34 - alle aufgenommen, Richtung Osten. Dazu hat Helmut Schmidt zu Zeiten schon, genauso wie Henry Kissinger, warnend gesagt: "Wenn ich Russe wäre und ich sähe, wie die NATO von der Oder an die Weichsel, von der Weichsel an die Westgrenze Russlands vormarschiert, hätte ich Sorgen." Kissinger nennt die NATO-Osterweiterung diplomatisch "einen schweren Fehler". Was sind denn die Gründe für einen Krieg, Herr Scholz, wenn Sie sich mal interessieren würden - für Philosophie? Wie Sie hier Reden halten über Immanuel Kant oder vielleicht sogar über Geschichte? Dann könnten Sie wissen, dass im 16. Jahrhundert Machiavelli sagen konnte: "Nicht immer ist der schuldig, der einen Krieg beginnt, sondern derjenige, der ihn treibt." Den Krieg zu beginnen. Wir kommen aus der Bekämpfung des Bösen nicht anders heraus, als indem wir hineinschauen in die Gründe, die dazu geführt haben. Das ist entscheidend. Die Botschaft der Bergpredigt. Der Anfang jedes wirklichen Friedens: Nicht dem anderen noch mehr Angst machen - sondern Angst abbauen - durch Vertrauen. Einzug in Jerusalem - zum Frieden. Im Schatten Ihres wunderbaren Doms, geboren aus den Wirren auch des Dreißigjährigen Krieges, wäre das die Botschaft von Ostern. Aber wie soll’s jetzt weitergehen? Wie reden wir miteinander, so dass Frieden entstehen könnte? Ein zentraler Fehler war nicht nur die NATO-Osterweiterung, sondern die Idee, die dahinterstand. 1989 - das fertige Friedensangebot: Abrüstung vom Ural bis zum Atlantik, Konversion der unglaublichen Mittel - wirtschaftlich, wissenschaftlich, medizinisch, sozial - zur Lösung der wirklichen Probleme der Menschheit. Millionen Menschen verhungern. Aber dafür haben wir kein Geld. Aufnahme von Flüchtlingen? Dafür haben wir kein Geld. Soziale Maßnahmen in den Ländern, wo Menschen nicht mehr leben können? Dafür haben wir kein Geld. Für nichts haben wir Geld - außer für Rüstung und für Waffen. Übrigens: Einer, der das noch zu sagen wagt, ist Papst Franziskus. Auf den könnten Katholiken - oder Friedensbewegungen - heute mal hören. In seiner Autobiografie "Wachet!" schreibt er ganz simpel: Welch ein Wahnsinn zu glauben, dass ein Krieg etwas Gutes bringe. Das Einzige, was der Krieg bringt, ist das Steigern der Rüstungsproduktion für die Industrie. Die mästet sich am Blut der Erschlagenen - wie ein Vampir. Jeder Krieg ist Wahnsinn - so müssten wir die Diagnose stellen. Immer mehr Waffen, immer mehr Aufrüstung - das kann nicht zum Frieden führen. Sondern ist wirklich die Psychose einer Paranoia, aus der wir nicht herauskommen - außer durch eine Botschaft, von wo ganz anders her. Wie ich sie gerade vortrage. Nicht mehr Machtpolitik! Das hatten wir 1990: Russland - geschwächt, der Warschauer Pakt - zusammengebrochen. Und was war unsere Chance? Nicht zum Frieden - sondern: "Wir haben gesiegt!" im Kalten Krieg. Wir sind die einzig verbliebene Großmacht. Und jetzt müssen wir verhindern, dass an unserer Seite neue Konkurrenten entstehen: Das wäre Russland. Das wäre China. Das muss man verhindern. 1991 - Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz - sie sitzen zusammen und verkünden: "Das 21. Jahrhundert - das wird ein amerikanisches Jahrhundert." Da sind wir mittendrin. Und wie kommen wir da rein? Mit einem Krieg nach dem nächsten. 1991: Der Irak-Krieg. Eine Million Tote. Und so soll es weitergehen. 1995: Krieg auf dem Balkan, vor allem gegen Serbien. Ein Bruderkrieg zwischen den Staaten dort. Zur Annexion des gesamten Korridors - für die NATO. 1999: Der Grüne Joschka Fischer belügt ganz Deutschland. "Wir müssen Auschwitz verhindern." Zum ersten Mal also: deutsche Bomber über Belgrad. Kann man alles haben. Haben wir mitgemacht. 2001: Krieg in Afghanistan. Die Taliban hatten mit dem Sturz der Twin Towers überhaupt nichts zu tun. Aber: Afghanistan grenzt im Süden an Russland und China. Und es hat eine Menge Rohstoffe. Da müssen wir hin. Zwanzig Jahre Krieg. Und wie wirbt man dafür? Da haben Sie die Experten der Psychologie: "Wir müssen die Frauen gewinnen." Denn Frauen sind nicht einfach dafür, Menschen abzuschlachten oder in Not zu lassen. Wenn wir also sagen: "Wir führen den Krieg in Afghanistan, um die afghanischen Frauen zu befreien - und ihnen die Burka abzunehmen", dann haben wir sie gewonnen. Diese Idiotie glaubt man in der Bevölkerung immer wieder. So dass man nur Egon Bahr folgen kann, der in einer Schulklasse einmal gesagt hat: "Wenn sie wiederkommen - und haben moralische Gründe für einen Krieg - glaubt ihnen den Deiwel. Es geht um Macht. Und nichts anderes." 2003: Der nächste Irak-Krieg. Wieder ein verlogener Krieg. 2011: Zerschlagung Libyens. Weil es eine Erdölwirtschaft für Afrika aufzubauen drohte - die den Dollar gefährden könnte. Weg also mit Gaddafi. Damals hat Putin noch im Weltsicherheitsrat zugestimmt, eine Flugverbotszone einzurichten zwischen Bengasi und Tripolis - um das Schlimmste zu vermeiden. Nur um mitzuerleben, dass man gar keine andere Absicht hatte, als einen vermeintlichen Diktator zu ermorden - und Regime-Change durchzusetzen. Und die Waffen aus Libyen gingen gleich weiter - nach Syrien, um dort das nächste Regime-Change-Programm zu starten. 2014: Der Maidan-Putsch. Ein Land nach dem anderen, das Russland nicht bereit oder nicht fähig ist, zu verteidigen - wird ihm weggenommen: Georgien, Moldawien… wie immer wir können. Das müssen wir machen - aus Machtgründen. Und dann - fragen wir, ganz ruhig: Können wir verstehen, was die Botschaft Jesu einmal war? Wenn du Gewalt einsetzt aus Angst, wenn du Krieg akzeptierst als Instrument zum Machtgewinn - dann kann Frieden prinzipiell nicht entstehen. Oder sagen wir es ganz simpel: Man kann keine Trauben ernten von Disteln, keine Feigen von Dornbüschen. Man bekommt, was man sät. Und wer Gewalt sät - und will -, wird Gewalt ernten. Immer wieder. Das Hauptproblem ist: Sie müssen hinweggehen über immer größere Leichenhaufen - und erklären: "Ich habe gesiegt!" Indem Sie diese Fahne nehmen und in den Haufen der Leichen hineinbohren - um zu sagen, wie groß Sie sind. Je höher Sie klettern auf dem Leichenhaufen - wenn Sie das können -, haben Sie aufgehört, sich als Mensch zu betätigen. Keine Waffe langt aus in dieser Idiotie der Paranoia. 1945 hatten wir den Einsatz der ersten Atombombe. Aber sie hat ihre physikalische Grenze. Denn die Neutronenabstrahlung bei einer bestimmten Menge führt zur unkontrollierten Explosion. Wir brauchen aber eine Waffe, die unbegrenzt physikalisch wirken kann. Wenn wir die Energie der Sonne auf die Erde holen - die Verschmelzung von Wasserstoff zu Helium, den Massenverlust in reine Energie verwandeln - und zu einer Bombe machen: eine Wasserstoffbombe… Dann haben wir 1000-mal Hiroshima in der Hand. Hiroshima - das waren 100.000 Tote in wenigen Sekunden - mal tausend. Das müssen wir haben! Dann sind wir die Größten. Die Stärksten. Die Unwiderstehlichen. Sie müssen denken - mit dem Russen Leo Tolstoi: Wer meint, er könne in dieser Art groß werden, zeigt nur, wie niedrig er ist, wie gemein und wie verachtenswert. Ein Staat, der systematisch junge Leute - 18-jährige, inzwischen sogar 16-jährige Mädchen - dahin drillt, Massenmordinstrumente einzusetzen, damit sie "groß" sind, damit sie "National Heroes" werden - ist nicht mehr menschlich, sondern in sich selbst verbrecherisch. Und das müssten seine eigenen Bürger ihm deutlich sagen: Das tun wir gerade so nicht - nicht mit uns! Dann bleibt das schwierige Problem: Wie bringt man Menschen dahin, keine menschlichen Gefühle mehr zu haben? Sie sehen vor sich ein Hündchen oder ein Kätzchen - und Sie haben es gern, weil Sie seine Augen sehen. Es ist unmöglich, dass Sie es töten könnten. Beim Menschen - gewiss, genauso. Und dann müssten Sie die Angst in den Augen Ihres vermeintlichen Gegners sehen. Das, was in ihm vor sich geht, berücksichtigen. Seine Angst - von innen her verstehen, statt die Symptome mit Gewalt niederzudrücken, müssten Sie die Gründe aufarbeiten. Wir sagen: Man kann das Böse nicht besiegen - man muss es überlieben. Was Sie jetzt hören, lässt sich am besten wieder von einem Russen lernen - der, als es darauf ankam, mir persönlich zweimal entscheidend geholfen hat: Fjodor Michailowitsch Dostojewski. In seinen Aufzeichnungen aus dem Totenhaus - in der Strafkolonie von Omsk - schreibt er einmal: "Es gibt zwischen Russen und Westeuropäern einen großen Unterschied. Wenn in Westeuropa jemand ein Gesetz bricht, nennt man ihn einen Verbrecher - und bestraft ihn entsprechend der Größe seines Vergehens. Wir Russen nennen ihn einen Unglücklichen, der unser aller Schuld auf seine Schultern trägt." Wenn das "russisch denken" ist - finden Sie die tiefste Erklärung in den Brüdern Karamasow. Der Mönch Aljoscha hört von seinem Lehrmeister Sossima: "Aljoscha, wenn sie jemals kommen und sagen: ‚Du sollst zu Gericht sitzen über deinen Nächsten’ - sprich als erstes dich selbst schuldig für die Schuld deines Bruders. Frage dich: ‚Wenn ich ein anderer Mensch gewesen wäre - hätte es dann sein können, dass er sein Vergehen begangen hätte?’ Nur wenn du dich selbst schuldig sprichst für die Schuld deines Bruders, magst du zu Gericht sitzen über deinen Nächsten." Wenn das russisch ist zu denken - müssten wir alles umlernen. Wir müssten den Menschen sehen. Und genau das ist der Punkt, wo ich sage: Es genügt nicht, gegen diesen Krieg zu sein - und gegen den anderen Krieg. Da haben wir ständig sich bewegende Schauplätze - und immer wieder neue Aktualitäten. Der Protest muss sich richten gegen das Prinzip des Militärs. Im Grunde: Wie erzieht man - auf den Kasernenhöfen der Welt - mit System Menschen zur Unmenschlichkeit? Ich sagte eben noch: Wenn Sie in die Augen eines Tieres schauen, ist es unmöglich, dass Sie es töten können. Nicht so beim Militär. 1994, die Explosion der Wasserstoffbombe "Bravo", genannt nach einem Bikini-Atoll - das man so sexy fand, dass man später die Frauenmode danach benannte. 40.000 Wirbeltiere wurden mitgenommen, um zu sehen, wie diese Bombe wirkt: In welchem Abstand platzen die Trommelfelle? Wo verbrennt die Haut? Wie wird das Genmaterial verseucht? Wie viele Missbildungen in wie vielen Generationen sind zu erwarten? Das muss man kennen, um es anzuwenden - um wirklich Macht auszuüben. Noch einmal hat ein anderer Russe recht: "Solange es Schlachthöfe gibt, wird es auch Schlachtfelder geben." Wem die Gefühle lebender Wesen egal sind, wird ein skrupelloser Mörder. Und das - behaupte ich - ist es, was man auf den Kasernenhöfen systematisch einübt: Keine Gefühle. Was die Mutter dir gesagt hat? Was der Pfarrer dir gesagt hat? Egal. Was der Drills Sergeant dir befiehlt, das zählt: "Wenn ich euch sage: Ihr Scheißer, ihr geht auf diesen Hügel - und ihr bringt sie alle um - habt ihr das gehört? Dann tut ihr das. - Yes, Sir! Ich hör’s nicht laut genug: - YES, SIR!!!" Das ist das ganz normale Drillsystem - auf jedem Kasernenhof: Die Entpersönlichung des Menschlichen. Angetreten! In einer Reihe. Linksschwenk - Marsch! Der ganze Körper nur noch Befehlsempfänger. Wie ein Computer, ein Roboter - in der Industrie des Todes. Kein eigenes Denken. Kein eigenes Fühlen. Keine Rückkopplung mit dem eigenen Gewissen. Nicht mit dem eigenen Körper. Nur noch: "Was hat der Drills Sergeant gesagt?" Das ist die Erklärung für alles, was im Militär geschieht. Stanley Milgram hat darüber nachgedacht: Wie war My Lai möglich? Unsere Jungs - ganz normale Kinder aus New York City oder Alabama - ermorden 400 unschuldige Menschen in My Lai. Ein Kriegsverbrechen, natürlich. Aber wie kommt es zustande? Irgendwelche Triebe? Versaut? Sexualpathologie? Unsinn. Stanley Milgram erklärt: Das Prinzip ist ganz einfach - und von furchtbarer Allgemeinheit: Gehorsam ist der Schlüssel. Und in welchem Ausmaß, muss ich Ihnen klarmachen - mit einem Interview von 1995. Günther Jauch - Sie werden ihn kennen - saß damals als Moderator dem Bomberkommandanten von Nagasaki, Major Sweeney, gegenüber. Jauch fragte ihn: "Major Sweeney, es sind jetzt über 50 Jahre her, dass Sie - zusammen mit Ihrem Staffelkameraden Major Tibbets - mehr Menschen ermordet haben als jeder Mensch in der Geschichte. Wie lebt man damit?" Als ich Kind war, sagte Drewermann, hat man mir erzählt: Die, die das getan haben - sind entweder in die Psychiatrie gekommen, oder ins Kloster gegangen, oder haben Selbstmord begangen. Kein Mensch dachte, dass man damit leben könnte. In Wahrheit aber - waren Tibbets und Sweeney Nationalhelden. Jedes Jahr - mit Champagner - trafen sie sich unter den Flügeln der "Enola Gay" und feierten ihren Triumph über Japan. Sweeneys Antwort war von brutaler Klarheit: "Was soll die Frage? Befehl ist Befehl. Jeder Soldat der Welt hätte dasselbe getan. Außerdem - der Scheißkrieg war dann ja wohl zu Ende." Der Scheißkrieg wäre längst zu Ende gewesen, nach dem Abfackeln von hunderttausenden Bambusdörfern in Tokio mit Napalm. Man brauchte keine Atombomben. Man brauchte sie, um Stalin zu zeigen, wer der Erbe des japanischen Kolonialreichs im Pazifik sein würde. Das geht bis heute so. Aber - wo er recht hat, hat er recht: Major Sweeney sagt: Jeder Soldat der Welt hätte dasselbe getan. Befehl ist Befehl. Wie sich das auswirkt, hätten wir in Deutschland gar nicht so weit von Ulm kennenlernen können - 1947, beim Nürnberger Kriegsverbrechertribunal. Da fragten die Amerikaner die Nazis: "Was habt ihr euch dabei gedacht - bei diesem Krieg?" Und alle erklärten dasselbe: "Wir haben nur getan, was uns befohlen wurde - wie alle auf jedem Kasernenhof gelernt haben." Damals sagten die amerikanischen Ankläger sinngemäß: "Das ist doch euer Verbrechen! Befehl ist Befehl? Ihr habt euch selbst als Menschen abgeschafft. Ihr habt kein Gewissen mehr gehabt. Ihr habt nur noch - mit langen Ohren - auf die nächste befehlsausgebende Instanz gelauscht. Nicht mehr auf euch selbst. Nicht auf eure Gefühle. Nicht auf euer Mitleid. Nicht auf eure Mitmenschlichkeit. Alles weg - befohlen." "Ihr habt euch einen Stahlhelm über den Kopf gezogen - und das Denken eingestellt. Den Koppel über den Bauch geschnallt - und geglaubt, da stimmt, was draufsteht: ‚Gott ist mit uns.’" "Ihr habt aufgehört, in der Uniform noch Personen zu sein - weil ihr nur noch eine Nummer wart - in der Fabrik des Todes. Das ist euer Verbrechen. Alles andere ist nur daraus gefolgt." Wenn es so steht - hätte Albert Einstein recht: "Es wird in der Geschichte der Menschheit keine weitere Entwicklung der Kultur geben, solange wir uns als Parallelgesellschaft das Militär halten." Solange wir - wie jetzt geplant - jeder Generation nacheinander beibringen, dass sie kriegsertüchtigt werden muss. Dass sie bereit sein muss: Ein 16-jähriges Mädchen - Panzer fahren zu können. Bomberpilot zu sein. Wieviel Machtgefühl, wieviel Selbstbestätigung liegt da drin? "Ich bin genauso wie die Kerle auch - und ich kann’s noch besser." So kann es keinen kulturellen Fortschritt geben. Im Militär ist alles das unter Befehl geboten, was dem Privatmann in Zivil verboten ist: Du sollst nicht morden. Du sollst nicht rauben. Du sollst nicht stehlen. Ja wofür führen wir denn Krieg - wenn nicht, um zu morden, zu rauben, zu stehlen? Genau dafür! Das musst du tun. Und es gibt keine Ausreden: "Ich war ja nur in der Fabrik, in der man Leopard-2-Panzer bei Rheinmetall herstellt." Alles, was im Krieg ist - und zum Krieg führt -, hat den Endzweck: Wie man Menschen tötet. Wer das begreift, kann nur zu jedem Krieg, zu jeder Kriegsvorbereitung, zu jeder Aufrüstung, zu jeder Kriegsertüchtigung, zu dem dämlichen Geschwätz der Politik - "Einen Krieg müssen wir führen - für den Frieden" - ein für alle Mal mit: Nein! begegnen. Dazu gehört: Wir verlieren die Angst. Wir bewahren unsere eigene Persönlichkeit. Wir hören auf unser Gewissen. Hermann Hesse - der eben erwähnt wurde, weil ich einmal einen Preis mit seinem Namen bekommen habe - konnte das 1955, bei der Debatte um die Wiederbewaffnung der Bundeswehr, erklären. Er sagte sinngemäß: "Jetzt werden sie kommen und sagen: Das da drüben ist ein Gewehr. Das ist ein Pappkamerad. Leg an. Ziele. Das ist der Abzug - bewege den Finger - und du kannst das. Und du machst das. Du bist bereit." Dann kommen sie wieder - und sagen: "Das da drüben - das ist kein Pappkamerad. Das ist ein Russe. Wie im Ersten Weltkrieg: ‚Jeder Schuss ein Russ’.’ Leg an. Ziel genau. Zieh ab - und du tust es." Dann wird die Ortszeitung schreiben: "Da können wir sehen, was wir für gute Soldaten haben. Prachtvoll trainiert. Treu ihrem Fahneneid. Tapfer vor dem Feind." Der Militärpfarrer wird kommen und dich segnen: "Du bist im Einsatz für Gott. Im Dienst der Gerechtigkeit." Und der Kompaniechef wird sagen: "Da könnt ihr sehen, wie ich meine Leute ausbilde!" Oder aber - du hörst auf die leise Stimme deines Gewissens, die dir sagt: Du sollst nicht töten. Dann nimmst du das Gewehr - und zerbrichst es über deinem Knie. Dann wird die Ortszeitung schreiben: "Ein Vaterlandsverräter! Eidbrüchig! Untreu!" Der Militärpfarrer wird sagen: "Du hast Gott völlig falsch verstanden." Und der Drills Sergeant wird sagen: "Jetzt langt’s mir! Demnächst wird so trainiert, dass es keine Ausnahmen mehr geben darf!" Du kannst wählen. Wirst du ein Soldat - oder bleibst du ein Mensch? Noch einmal anders gesagt: Du musst deinen Gegner sehen. Pistorius war einmal Bürgermeister in Osnabrück. Dort gibt es ein Museum für Erich Maria Remarque. In seinem Buch Im Westen nichts Neues schildert Remarque eine Szene: Ein Mann liegt in einem Granattrichter - ein deutscher Soldat, an seiner Seite ein schwerverletzter, auf den Tod hin leidender Franzose. Und die beiden - kommen einander immer näher. Der Franzose war im Zivilleben Setzer, und der Deutsche sagt: "Wenn der Krieg vorbei ist, will ich auch Setzer werden." Er fühlt sich schuldig. Alles, was da passiert - hätte nie sein dürfen. "Was kann ich denn dafür, dass dieser Mann mit zerfetztem Bein und Unterleib da liegt und auf den Tod hin röchelt? Das habe ich nicht gewollt. Und jetzt sehe ich, was ich mitmachen musste…" Ich mache es dramatisch: Juli 1943. Admiral Harris befiehlt gerade die Operation "Gomorrha" - ein biblisches Gericht über die Hansestadt Hamburg. Man hat das geübt: Zuerst Sprengbomben in die Häuserreihen - danach Brandbomben, damit der Feuersturm sich so entfacht, dass er selbst den Leuten in den Bunkern die Atemluft entzieht. 21. bis 23. Juli 1943 - über 40.000 Menschen sterben allein im Stadtteil Hammerbrook. Scheinbar ein großer Sieg. Und die Männer der Royal Air Force erklärten: "Wenn die Nazis Coventry angreifen, müssen wir Vergeltung üben - in Hamburg. Oder später - wo immer." Ein Pilot - Herold Nash - sagte: "Wir sahen unter uns - es lag ausgebreitet wie ein dunkles Band aus Samt, bestickt mit Perlen. Aber wir wussten, dass das, was wir da unten anrichten, schlimmer ist als Dantes Inferno." "Wir sahen nur die Brände - wir sahen keine Menschen. Sonst hätten wir das nicht tun können." Darauf warte ich. Darauf warte ich, dass man endlich - bei den Kosten eines Krieges - begreift: Sie sind unerschwinglich. Denn über Leichen kommt kein Frieden. 1941 wird ein junger Deutscher, Wolfgang Borchert mit Namen, eingezogen - an die Ostfront. Er verstümmelt sich selbst, um kriegsuntauglich zu werden. Wird dann in ein Strafbataillon versetzt. Und liegt ab 1945 - mit schwerem Lungenleiden - sterbend in Basel. Doch er hinterlässt der Menschheit einen Appell, der bis heute gilt. Ich zitiere: "Frau, Mutter in der Ukraine, Mutter in Deutschland: Wenn sie jemals wiederkommen und dir sagen, du sollst Kinder gebären - Mädchen für die Spitäler als Krankenschwestern, Jungen für die Schützengräben als Soldaten - dann sag: Nein!" "Mann an der Werkbank: Wenn sie wiederkommen und dir sagen, du sollst statt Wasserrohren und Kochgeschirr Kanonenrohre und Handgranaten fertigen - dann sag: Nein!" "Forscherin im Labor: Wenn sie wiederkommen und dir sagen, du sollst den neuen Tod erfinden gegen das alte Leben - dann sag: Nein!" "Pfarrer auf der Kanzel: Wenn sie wiederkommen und dir sagen, du sollst den Krieg heiligen und die Waffen segnen - dann sag: Nein!" "Denn wenn ihr nicht Nein sagt - wird das alles wiederkommen." Und eines füge ich noch hinzu. Mein eigener Vater - August 1914 - meldete sich freiwillig zur kaiserlichen Armee. Er wurde an die Ostfront verlegt, lief zu Fuß bis Baranowitschi. Abends, wenn das wechselseitige MG-Feuer eingestellt wurde, brach Stille aus in den deutschen Schützengräben. Denn drüben - 300 Meter weiter - fingen die Russen an zu singen. Mein Vater war kein Dichter. Aber das konnte er sagen: "Die hochrussische Seele - ist eine Nachtigall." Ich habe ihn erstaunt gefragt: "Und darf man Nachtigallen vom Himmel schießen?" Darauf - gab es keine Antwort mehr. Russen haben nicht nur die Seele einer Nachtigall - auch was sie singen, lässt sich hören. Dostojewski, kurz vor seinem Tod, hielt eine Rede auf Puschkin, versöhnte sich gleichzeitig mit Turgenjew und sagte am Ende: "Der Russe ist ein Mensch, der alles versteht." Und wenn Dostojewski recht hat - dann sage ich: "Lasst uns alle Russen werden." Ich danke Ihnen sehr. Quelle: Pressenza - 21.04.2025. Eine Vervielfältigung oder Verwendung des Textes in anderen elektronischen oder gedruckten Publikationen ist unter Berücksichtigung der Regeln von Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0) möglich. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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